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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0348
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I Überblickskommentar

1 Entstehungs-, Text- und Publikationsgeschichte
N. hat schon als Kind das eigene Leben schriftlich reflektiert und über dessen
Verlauf Rechenschaft abgelegt, als ob er der Zufälligkeit seines Daseins den
Anschein der Notwendigkeit geben wolle (vgl. Klossowski 1969, 323). Zwischen
1858 und 1868 verfasste er zehn autobiographische Skizzen, denen eine „Ver-
schränkung von Leben und Schreiben", ein „Changieren zwischen einer Auf-
zeichnung ,für sich' und einer Aufzeichnung ,für andere'" sowie eine „Tendenz
zur Allgemeingültigkeit" eigentümlich war (Langer 2005, 92 f.). Insofern lässt
sich von einem konstanten autobiographischen Interesse sprechen, das nach
einem ersten Höhepunkt in den neuen Vorreden für die Zweitausgaben der
Geburt der Tragödie, von Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröthe und
Fröhlicher Wissenschaft in Ecce homo (EH) kulminiert, in einer Schrift, mit
deren Niederschrift N. an seinem 44. Geburtstag, am 15. Oktober 1888 begon-
nen hat — nach dem Einschub EH KSA 6, 263: „so erzähle ich mir mein Leben"
(263, 11, vgl. dazu auch Detering 2010, 117). Jedoch würde man Intention und
Gehalt von EH vereinseitigen, wollte man darin eine konventionelle Autobio-
graphie sehen, zumal dann, wenn man nach klassischer Definition die Auto-
biographie versteht als „rückblickenden Bericht in Prosa, den eine wirkliche
Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr
individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt"
(Lejeune 1998, 220). Mit Recht haben Kittler 1980 und Kofman 1992 darauf
verwiesen, dass in diesem scheinbar autobiographischen Text das Genre Auto-
biographie untergraben werde — allein schon dadurch, dass N. die im Wort
„Autobiographie" enthaltenen Begriffe autos (Selbst), bios (Leben) und gra-
phein (Schreiben) zur Disposition stelle, ja „la mort de l'autos" verkünde (Kof-
man 1992, 29). Stegmaier 1992, 168, der sich gegen Giorgio Collis Behauptung
verwahrt, N. habe mit EH „den plötzlichen Entschluß" gefasst, „eine Autobio-
graphie zu schreiben" (KSA 6, 452), sieht in dem Werk eine erzählerische Dar-
stellung der „Lebensbedingungen seines Denkens". Müller / Sommer 2005, 130
sprechen vor diesem Hintergrund statt von Autobiographie von „Autogenealo-
gie".
In einem Brief an seinen Verleger Constantin Georg Naumann vom 06. 11.
1888, KSB 8, Nr. 1139, S. 464, Z. 15-19 schrieb N.: „So habe ich eine extrem
schwere Aufgabe — nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansichten,
bruchstückweise, so weit es dazu erfordert war, mein Leben zu erzählen —
zwischen dem 15. Okt. und 4. November gelöst." Nach dieser brieflichen
 
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