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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0350
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Überblickskommentar 327

N.s Gesamtwerk als eine stimmige, folgerichtige Einheit zu betrachten. Zugleich
ist die propagandistisch-protreptische Absicht dieser neuen Vorreden nicht zu
verkennen: Sie sollen zu einer neuen Art des Philosophierens einladen (das
sich von allem Hergebrachten radikal zu unterscheiden vorgibt) und zugleich
plausibel machen, weshalb man die jeweils schon einige Jahre alten Bücher
gegenwärtig immer noch (und erst recht) lesen solle. EH insgesamt erfüllt
einen ähnlichen propagandistisch-protreptischen Zweck wie diese Vorreden
(vgl. Brusotti in NH 135), und zwar im Blick auf N.s „Umwerthung aller Werthe"
(vgl. EH Vorwort, KSA 6, 257, 3-6). Im Unterschied zu diesen Vorreden ist EH
nicht in erster Linie retrospektiv, sondern sowohl prospektiv als auch retro-
spektiv angelegt: Prospektiv auf die angekündigte „Umwerthung aller Werthe",
retrospektiv auf den bisherigen Verlauf seines Denkens. Diese prospektiv-retro-
spektive Doppelbetrachtung betrifft nicht nur N.s eigenes Herkommen und
seine Zukunft, sondern ebenso den Verlauf der Weltgeschichte als ganzer: EH
hält Rückblick auf eine Verfallsgeschichte der Kultur und will den Ausblick auf
eine verheißungsvolle Zukunft eröffnen, die von der Umwertung aller Werte
bestimmt werden wird. Im exemplarischen Ich, das in EH spricht, verdichten
sich nicht nur individuelle Vergangenheit und Zukunft zu einer dionysischen
Gegenwart, sondern die Weltgeschichte insgesamt soll in diesem Ich, das sich
nach Ausweis des letzten Kapitels für ein „Schicksal" hält, gewissermaßen ihr
Nadelöhr finden.
EH lässt sich als „Protokoll einer umfassenden Selbstermächtigung" (Gör-
ner 2008, 119) lesen. Man hat wiederholt auf das schreiende Missverhältnis
zwischen der in EH behaupteten, welthistorisch singulären Bedeutung N.s, sei-
nem geradezu messianischen Selbstbewusstsein („Ich bin ein froher Bot-
schafter, wie es keinen gab" — EH Warum ich ein Schicksal bin 1, KSA 6,
366, 5 f.) sowie der fast völligen Resonanzlosigkeit seines Werkes zu Lebzeiten
hingewiesen. Die Selbstapotheose in EH bis hin zur Identifikation mit Dionysos
hat man häufig als Vorboten, wenn nicht als Anzeichen des Wahnsinns inter-
pretiert (zur Diskussion bes. Langer 2005, 96-100). Und doch ist nicht zu
bezweifeln, dass N. posthum in eine weltmentalitätsgeschichtliche Schlüssel-
stellung hineingewachsen ist. Er hat sich durchaus als Schicksal der Moderne
erwiesen. „Mit Alledem bin ich nothwendig auch der Mensch des Verhängnis-
ses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt,
werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Verset-
zung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff
Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde
der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt — sie ruhen allesamt auf der
Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von
mir an giebt es auf Erden grosse Politik." (EH Warum ich ein Schicksal
 
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