Überblickskommentar 337
Biograpische über mich und meine Litteratur: man wird mich mit Einem Male
zu sehn bekommen." (KSB 8, Nr. 1143, S. 470, Z. 62-65) Meta von Salis ließ
N. am 14. 11. 1888 wissen: „inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück
Litteratur, das den Titel führt ,Ecce homo. Wie man wird, was man ist' —
auch schon wieder mit Flügeln begabt und flattert, wenn mich nicht Alles
täuscht, in der Richtung von Leipzig... Dieser homo bin ich nämlich selbst,
eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schre-
cken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen." (KSB 8, Nr. 1144, S. 471,
Z. 9-15) Man sieht an den fast gleichzeitigen, aber sehr unterschiedlichen Aus-
sagen, dass N. seine Verlautbarungen sehr bewusst auf den jeweiligen Adressa-
ten abgestimmt hat: hochfahrend-selbstgefällig bei dem unkritischen Gefolgs-
mann Köselitz, zurückhaltend-nüchtern beim skeptischen Freund Overbeck,
malerisch-selbstironisch bei der guten, aber doch distanzierten Bekannten von
Salis. Der letzte Brief ist besonders aufschlussreich, weil er nicht nur den Wil-
len betont, das Publikum über denjenigen aufzuklären, der dereinst mit der
Umwertung aller Werte hervortreten wird, sondern auch die Absicht erkennen
lässt, „Schrecken zu verbreiten", das heißt, eine sich ankündigende Furchtbar-
keit, nämlich die Umwertung, schon in das Bild, das N. von sich selbst zeich-
net, hineinzunehmen. Es steht mit EH also keineswegs eine Autobiographie
unter möglichst weitgehender Ausschaltung subjektiver Befangenheiten zu
erwarten, sondern vielmehr eine Selbstdarstellung, in der dieses Selbst sich
als Schreckensgestalt im Hinblick auf das bislang Gültige, nämlich die bishe-
rige Moral präsentiert, kurzum: als Antichrist. EH verfolgt damit keineswegs
in erster Linie einen dokumentarischen, sondern einen performativen Zweck,
nämlich durch die Darstellung des Ichs als „Schicksal" die Leserschaft für das
Kommende, das Umwertungsbuch geneigt (oder gefügig) zu machen. Dieser
Stilisierungsabsicht entsprechend wäre es auch verfehlt, wollte man N. wegen
fehlender Objektivität der Darstellung Vorhaltungen machen, denn dann
würde man seine spezifische Wirkungsintention verkennen, nicht nur „Licht",
sondern auch „Schrecken" über sich zu verbreiten. Dieses Moment der pointie-
renden Zurüstung der Selbstdarstellung zum Zwecke der Umwertung, diese
anekdotische Verkürzung ist wohl mit dafür verantwortlich, dass N. in seinem
Brief an Brandes vom 20. 11. 1888 von Kynismus spricht (vgl. NK 302, 26-
30, Niehues-Pröbsting 2005 u. Stingelin 2002, 91 f.): „Ich habe jetzt mit einem
Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt
,Ecce homo' und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den
Gekreuzigten: es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was
christlich oder christlich-infekt ist" (KSB 8, Nr. 1151, S. 482, Z. 9-13). Ein
anderer Aspekt dieses „Cynismus" ist die schamlose Rücksichtslosigkeit, mit
der EH alles zur Sprache bringt, was bislang als heilig und / oder als tabu gilt.
Biograpische über mich und meine Litteratur: man wird mich mit Einem Male
zu sehn bekommen." (KSB 8, Nr. 1143, S. 470, Z. 62-65) Meta von Salis ließ
N. am 14. 11. 1888 wissen: „inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück
Litteratur, das den Titel führt ,Ecce homo. Wie man wird, was man ist' —
auch schon wieder mit Flügeln begabt und flattert, wenn mich nicht Alles
täuscht, in der Richtung von Leipzig... Dieser homo bin ich nämlich selbst,
eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schre-
cken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen." (KSB 8, Nr. 1144, S. 471,
Z. 9-15) Man sieht an den fast gleichzeitigen, aber sehr unterschiedlichen Aus-
sagen, dass N. seine Verlautbarungen sehr bewusst auf den jeweiligen Adressa-
ten abgestimmt hat: hochfahrend-selbstgefällig bei dem unkritischen Gefolgs-
mann Köselitz, zurückhaltend-nüchtern beim skeptischen Freund Overbeck,
malerisch-selbstironisch bei der guten, aber doch distanzierten Bekannten von
Salis. Der letzte Brief ist besonders aufschlussreich, weil er nicht nur den Wil-
len betont, das Publikum über denjenigen aufzuklären, der dereinst mit der
Umwertung aller Werte hervortreten wird, sondern auch die Absicht erkennen
lässt, „Schrecken zu verbreiten", das heißt, eine sich ankündigende Furchtbar-
keit, nämlich die Umwertung, schon in das Bild, das N. von sich selbst zeich-
net, hineinzunehmen. Es steht mit EH also keineswegs eine Autobiographie
unter möglichst weitgehender Ausschaltung subjektiver Befangenheiten zu
erwarten, sondern vielmehr eine Selbstdarstellung, in der dieses Selbst sich
als Schreckensgestalt im Hinblick auf das bislang Gültige, nämlich die bishe-
rige Moral präsentiert, kurzum: als Antichrist. EH verfolgt damit keineswegs
in erster Linie einen dokumentarischen, sondern einen performativen Zweck,
nämlich durch die Darstellung des Ichs als „Schicksal" die Leserschaft für das
Kommende, das Umwertungsbuch geneigt (oder gefügig) zu machen. Dieser
Stilisierungsabsicht entsprechend wäre es auch verfehlt, wollte man N. wegen
fehlender Objektivität der Darstellung Vorhaltungen machen, denn dann
würde man seine spezifische Wirkungsintention verkennen, nicht nur „Licht",
sondern auch „Schrecken" über sich zu verbreiten. Dieses Moment der pointie-
renden Zurüstung der Selbstdarstellung zum Zwecke der Umwertung, diese
anekdotische Verkürzung ist wohl mit dafür verantwortlich, dass N. in seinem
Brief an Brandes vom 20. 11. 1888 von Kynismus spricht (vgl. NK 302, 26-
30, Niehues-Pröbsting 2005 u. Stingelin 2002, 91 f.): „Ich habe jetzt mit einem
Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt
,Ecce homo' und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den
Gekreuzigten: es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was
christlich oder christlich-infekt ist" (KSB 8, Nr. 1151, S. 482, Z. 9-13). Ein
anderer Aspekt dieses „Cynismus" ist die schamlose Rücksichtslosigkeit, mit
der EH alles zur Sprache bringt, was bislang als heilig und / oder als tabu gilt.