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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0363
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340 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

das in EH als historische Wahrheit Behauptete mit ebenso viel Vorsicht werde
aufnehmen müssen wie die Lügengeschichten, die der angeklagte Prado den
Ermittlungsbehörden in immer wieder neuen Varianten auftischte. Betrug und
Hochstapelei kann und will offensichtlich nicht einmal der Verfasser bei seiner
Autogenealogie ausschließen.

3 Quellen und Einzugsgebiete
In EH fließen nicht nur Eindrücke aus den retraktierten Schriften N.s, sondern
auch aus anderen Lektüren ein. N. war in den letzten Jahren seines Schreibens
keineswegs vorwiegend leseabstinent, wie er etwa in EH Warum ich so klug
bin 3 suggeriert (vgl. NK 284, 25 f.). Die für WA, GD und AC besprochenen
Quellen sind auch in EH mehr oder weniger stark präsent, obwohl die Beschäf-
tigung mit dem Eigenen häufig eine direkte Fremdvorlage für einzelne Passa-
gen überflüssig machte. Aber an vielen Stellen wird, wie der Stellenkommentar
nachweist, auf zeitgenössische Diskussionen und die entsprechende Literatur
Bezug genommen. Für die Konzeption von EH, so reich das autobiographische
und autoreflexive Schrifttum Europas seit Augustins Confessiones auch ist, gibt
es keine direkte Vorlage. Die Aufgabe, ein singuläres Individuum in seinem
singulären Tun, nämlich alle Werte umzuwerten, genealogisch zu durchleuch-
ten und ihm zugleich propagandistisch Schützenhilfe zu leisten, verlangte
nach einem singulären Werk, das nicht einfach herkömmliche Gattungstradi-
tionen reproduziert, so sehr bereits die ersten Herausgeber darin eine „Lebens-
beschreibung" und eine „psychologische[.] Selbstanalyse" (GoA 15, Leipzig
1922, VIII) sehen wollten. Mit Jensen 2011 kann man EH als performatives Bei-
spiel für einen durchdachten und bewussten Angriff auf die damals geltenden
Paradigmen der positivistischen und objektivistischen Geschichtsschreibung
verstehen. Die radikale Subjektivität der Perspektive des sprechenden Ichs
erscheint gerade von der Singularität des von ihm inszenierten Umwertungs-
werkes gefordert. ,„In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst,
um Herr über etwas zu werden' [NL 1885/86, KSA 12, 2[148], 140, 3f. =
KGW IX 5, W I 8, 78, 40-42] — in Ecce homo wird es zu einem Mittel, um Herr
über sich zu werden." (Langer 2005, 108).
In EH findet eine gewaltsame Ich-Aneignung und Ich-Zurüstung zwecks
Publikumspräparation für die kommende Umwertung aller Werte statt. Ent-
sprechend gewaltsam ist der Umgang mit den Quellen — gleichgültig, ob diese
Quellen in literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Schriften
anderer oder in den Erinnerungen an den eigenen Denk- und Lebensweg beste-
hen. Häufig zeigt sich dabei der Gestus der Inversion des Überlieferten: Beson-
 
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