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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0417
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394 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

scheidung macht: Ernährung, Ort, Klima und Erholung. Mit Viel-Wissen hat
nach EH Warum ich so klug bin 1 Klugheit nichts zu tun; aktives Vergessen
sah N. spätestens seit seiner Zweiten unzeitgemässen Betrachtung als positives
Vermögen an. In der Abfolge der Kapitel scheint die traditionelle hierarchische
Abstufung zwischen Weisheit und Klugheit erhalten zu bleiben; jedoch ist die
ironische Konnotation im Gebrauch des Weisheitsbegriffs nicht zu überhören:
Weisheit im Sinne eines objektiven Übersichtswissens mit glücksgarantieren-
den praktischen Perspektiven ist längst N.s fundamentaler Philosophie-Kritik
verfallen. Gegen die Geist-Orientierung von zweieinhalb Jahrtausenden Philo-
sophiegeschichte besinnt sich N. zur Erläuterung der Frage, warum er so weise
sei, auf seine Physis, sein Gegebensein als Natur. Das Kapitel „Warum ich so
klug bin" stellt in den Vordergrund, wie dieses Gegebensein als Natur durch
den eigenen Einfluss modifiziert und optimiert werden kann, nämlich durch
die bewusste, vitalitätssteigernde Wahl von Ernährung, Ort, Klima und Erho-
lung (zu diesem Kapitel als „Kasuistik" siehe Domino 2002; Kittler 1980, 161
notiert, N. werde darin zum „Milieutheoretiker der eigenen Autorschaft").
1
Der Abschnitt, zu dem sich Materialien in NL 1888, KSA 13, 24[1]1, 615-617
finden, spiegelt N.s diätetische und selbsttherapeutische Erfahrungen, vor
allem aber seine einschlägigen Lektüren. So hat er zuvor Leopold Löwenfelds
Die moderne Behandlung der Nervenschwäche (Neurasthenie), der Hysterie und
verwandter Leiden (1887) studiert; auch die von ihm vielfach konsultierte,
achte Auflage von Carl Ernst Bocks Buch vom gesunden und kranken Menschen
behandelt unter der Rubrik der „Diätetik" ausführlich die einzelnen dem
Gesunden zuträglichen Nahrungsmittel (Bock 1870, 298 ff. u. 317 ff.). Im Kapitel
„Diätetik" von Michael Fosters Lehrbuch der Physiologie hat N. gleichfalls
diverse Lesespuren hinterlassen (Foster 1881, 415-418). Schließlich hat Luigi
Cornaros Die Kunst, ein hohes und gesundes Alter zu erreichen auf N. doch
immerhin so viel Eindruck gemacht, dass er sich von der dort empfohlenen,
möglichst weitgehenden Mäßigkeit abgrenzen zu müssen glaubte (vgl. NK
KSA 6, 88, 12-14). Cornaro hatte, so fasste es Paul Sembach im Vorwort zu
seiner von N. benutzten Übersetzung zusammen, „die konsequente Lossagung
von jedweder Art von Üppigkeit" zur diätetischen Direktive erhoben (Cornaro
o. J. [1881], 5), was ihn in N.s Augen dekadenzverdächtig machte. Nach Cornaro
verhilft „die Mäßigkeit" „dem Leben zur Tugend" (ebd., 14). An dieser sehr
moralischen „Tugend" war N. sichtlich nicht interessiert, wenn er stattdessen
279, 9 die „moralinfreie[.] Tugend" propagierte. Dennoch regiert auch in N.s
 
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