406 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
intensiver anregend auf alle vegetativen Körperfunktionen, Atmung, Verdau-
ung, Blutzirkulation, einwirkt. Natürlich verlangt die Anwendung dieser
Höhenkurorte kräftige, widerstandsfähige Konstitution. Sie wirkt günstig bei
manchen Formen von Bleichsucht mit nervösen Störungen, von Verdauungs-
trägheit infolge von übertriebener Ernährung [...]. Hier sind zu nennen: [...]
St. Moritz, Samaden, Pontresina, Sils Maria (sämtlich ca. 1800 m hoch) im
Engadin".
Der von N. in EH Warum ich so weise bin 2 traktierte Zusammenhang
von Ernährung, Klima und Selbstwerdung wurde nicht nur in medizinischen
Handbüchern abgehandelt, sondern war auch Gegenstand evolutionsbiologi-
scher Überlegungen. So schreibt Ernst Haeckel in seiner Natürlichen Schöp-
fungsgeschichte (zu N.s Rezeption dieses Buches vgl. Orsucci 1993, 378; zu N.
und Haeckel allgemein Stiegler 2001, 58-66): „Wenn ich hier die ,Ernährung'
als Grundursache der Abänderung und Anpassung an /199/ führe, so nehme
ich dieses Wort im weitesten Sinne, und verstehe darunter die gesammten
materiellen Veränderungen, welche der Organismus in allen seinen Theilen
durch die Einflüsse der ihn umgebenden Außenwelt erleidet. Es gehört also
zur Ernährung nicht allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und
der Einfluß der verschiedenartigen Nahrung, sondern auch z. B. die Einwir-
kung des Wassers und der Atmosphäre, der Einfluß des Sonnenlichts, der Tem-
peratur und aller derjenigen meteorologischen Erscheinungen, welche man
unter dem Begriff ,Klima' zusammenfaßt. [...] Alle diese und noch viele andere
höchst wichtige Einwirkungen, welche alle den Organismus mehr oder weniger
in seiner materiellen Zusammensetzung verändern, müssen hier beim Stoff-
wechsel in Betracht gezogen werden. Demgemäß wird die Anpassung die
Folge aller jener materiellen Veränderungen sein, welche die äußeren Existenz-
Bedingungen, die Einflüsse der umgebenden Außenwelt im Stoffwechsel
des Organismus hervorbringen." (Haeckel 1874b, 198 f.) N.s scheinbar extrava-
ganter Import diätetischer und klimatologischer Überlegungen in die Philoso-
phie steht also im Kontext von naturwissenschaftlichen Debatten der Zeit, die
unter dem Eindruck Darwins eine besondere Schärfe gewonnen hatten: Biolo-
gisch ist nach evolutionstheoretischer Überzeugung die Essenz eines Lebewe-
sens keineswegs für die Ewigkeit festgelegt, sondern erweist sich als abhängig
von den jeweiligen Umständen, namentlich von Nahrungsangebot und Klima.
Bei der Auswahl des ihm Gemäßen — der Nahrung, des Ortes, des Klimas und
der Erholung — selektiert das in EH sprechende Ich sich sozusagen selbst zu
einem höheren Wesen: Es optimiert diejenigen Eigenschaften, die es für wün-
schenswert, für zukunftsträchtig hält. N. travestiert den Darwinismus, indem
er Selektion nicht als ein natürliches Geschehen begreift, sondern als etwas,
das aktiv gesteuert werden kann.
intensiver anregend auf alle vegetativen Körperfunktionen, Atmung, Verdau-
ung, Blutzirkulation, einwirkt. Natürlich verlangt die Anwendung dieser
Höhenkurorte kräftige, widerstandsfähige Konstitution. Sie wirkt günstig bei
manchen Formen von Bleichsucht mit nervösen Störungen, von Verdauungs-
trägheit infolge von übertriebener Ernährung [...]. Hier sind zu nennen: [...]
St. Moritz, Samaden, Pontresina, Sils Maria (sämtlich ca. 1800 m hoch) im
Engadin".
Der von N. in EH Warum ich so weise bin 2 traktierte Zusammenhang
von Ernährung, Klima und Selbstwerdung wurde nicht nur in medizinischen
Handbüchern abgehandelt, sondern war auch Gegenstand evolutionsbiologi-
scher Überlegungen. So schreibt Ernst Haeckel in seiner Natürlichen Schöp-
fungsgeschichte (zu N.s Rezeption dieses Buches vgl. Orsucci 1993, 378; zu N.
und Haeckel allgemein Stiegler 2001, 58-66): „Wenn ich hier die ,Ernährung'
als Grundursache der Abänderung und Anpassung an /199/ führe, so nehme
ich dieses Wort im weitesten Sinne, und verstehe darunter die gesammten
materiellen Veränderungen, welche der Organismus in allen seinen Theilen
durch die Einflüsse der ihn umgebenden Außenwelt erleidet. Es gehört also
zur Ernährung nicht allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und
der Einfluß der verschiedenartigen Nahrung, sondern auch z. B. die Einwir-
kung des Wassers und der Atmosphäre, der Einfluß des Sonnenlichts, der Tem-
peratur und aller derjenigen meteorologischen Erscheinungen, welche man
unter dem Begriff ,Klima' zusammenfaßt. [...] Alle diese und noch viele andere
höchst wichtige Einwirkungen, welche alle den Organismus mehr oder weniger
in seiner materiellen Zusammensetzung verändern, müssen hier beim Stoff-
wechsel in Betracht gezogen werden. Demgemäß wird die Anpassung die
Folge aller jener materiellen Veränderungen sein, welche die äußeren Existenz-
Bedingungen, die Einflüsse der umgebenden Außenwelt im Stoffwechsel
des Organismus hervorbringen." (Haeckel 1874b, 198 f.) N.s scheinbar extrava-
ganter Import diätetischer und klimatologischer Überlegungen in die Philoso-
phie steht also im Kontext von naturwissenschaftlichen Debatten der Zeit, die
unter dem Eindruck Darwins eine besondere Schärfe gewonnen hatten: Biolo-
gisch ist nach evolutionstheoretischer Überzeugung die Essenz eines Lebewe-
sens keineswegs für die Ewigkeit festgelegt, sondern erweist sich als abhängig
von den jeweiligen Umständen, namentlich von Nahrungsangebot und Klima.
Bei der Auswahl des ihm Gemäßen — der Nahrung, des Ortes, des Klimas und
der Erholung — selektiert das in EH sprechende Ich sich sozusagen selbst zu
einem höheren Wesen: Es optimiert diejenigen Eigenschaften, die es für wün-
schenswert, für zukunftsträchtig hält. N. travestiert den Darwinismus, indem
er Selektion nicht als ein natürliches Geschehen begreift, sondern als etwas,
das aktiv gesteuert werden kann.