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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0434
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Stellenkommentar EH klug, KSA 6, S. 284-285 411

Rasse hervorzuheben, einen echten Lateiner, dem ich besonders zugethan bin,
Guy de Maupassant. Ich ziehe diese Generation, unter uns gesagt, sogar ihren
grossen Lehrern vor, die allesammt durch deutsche Philosophie verdorben sind:
Herr Taine zum Beispiel durch Hegel, dem er das Missverständniss grosser Men-
schen und Zeiten verdankt. So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur.
Der Krieg erst hat den Geist in Frankreich „erlöst"... Stendhal, einer der schöns-
ten Zufälle meines Lebens — denn Alles, was in ihm Epoche macht, hat der
Zufall, niemals eine Empfehlung mir zugetrieben — ist ganz unschätzbar mit
seinem vorwegnehmenden Psychologen-Auge, mit seinem Thatsachen-Griff, der
an die Nähe des grössten Thatsächlichen erinnert (ex ungue Napoleonem —);
endlich nicht am Wenigsten als ehrlicher Atheist, eine in Frankreich spärliche
und fast kaum auffindbare species, — Prosper Merimee in Ehren... Vielleicht bin
ich selbst auf Stendhal neidisch? Er hat mir den besten Atheisten-Witz wegge-
nommen, den gerade ich hätte machen können: „die einzige Entschuldigung Got-
tes ist, dass er nicht existirt"... Ich selbst habe irgendwo gesagt: was war der
grösste Einwand gegen das Dasein bisher? Gott...] N. hat diesen Passus mit
der Korrektur von Anfang Dezember eingefügt; ursprünglich lautete er: „Von
Franzosen erquickte mich von jeher, vielleicht aus Temperaments-Verwandt-
schaft, Montaigne: wir haben Beide viel Muthwillen im Geiste, wer weiss?
vielleicht auch im Leibe. — Ein guter Jünger des Dionysos muss auch ein guter
Satyr sein. — Seit zehn Jahren unterhalte ich mich mit Stendhal, einer mei-
ner angenehmsten Bekanntschaften im Zufall der Bücher: seine psychologi-
sche Abenteurer-Neugierde, sein harter Realitäten-Sinn, in dem noch Etwas
von der Tatze Napoleon's sich ausprägt (ex ungue Napoleonem), endlich sein
unter Franzosen geradezu unschätzbarer ehrlicher Atheismus geben ihm
ein Recht auf meine Sympathie. Stendhal hat den besten Atheisten-Witz
gemacht: ,die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existirt'. —
Emerson, mit seinen Essays, ist mir ein guter Freund und Erheiterer auch in
schwarzen Zeiten gewesen: er hat so viele Skepsis, so viele ,Möglichkeiten' in
sich, dass bei ihm sogar die Tugend geistreich wird... Ein einziger Fall:... Schon
als Knabe hörte ich ihm gerne zu. Insgleichen gehört der Tristram Shandy zu
den frühesten mir schmackhaften Büchern; wie ich Sterne empfand, verräth
eine sehr nachdrückliche Stelle in ,Menschl. Allzum.' (II Aph. 113). Vielleicht,
dass ich aus verwandten Gründen Lichtenberg unter deutschen Büchern
vorzog, während mir schon mit 13 Jahren der ,Idealist' Schiller Pfeile auf die
Zunge legte... Ich möchte den Abbe Galiani nicht vergessen, diesen tiefsten
Hanswurst, der je gelebt hat. — Von alten Büchern ist einer meiner stärksten
Eindrücke jener übermüthige Provenzale Petronius, der die letzte Satura
Menippea gedichtet hat. Diese souveraine Freiheit vor der ,Moral', vor dem
,Ernste', vor dem eignen sublimen Geschmack, dies Raffinement in der
 
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