426 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
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Bis zur Überarbeitung Anfang Dezember 1888 lautete dieser Abschnitt: „Die
Musik — um des Himmels Willen! Halten wir sie fest als Erholung und als
nichts Andres!... Um keinen Preis darf sie uns Das sein, wozu sie heute durch
den allermächtigsten Missbrauch geworden ist, — ein Aufregungsmittel,
[Podach 1961, 241 hat: Aufreizungsmittel] ein Peitschenschlag mehr für
erschöpfte Nerven, eine blosse Wagnerei! — Nichts ist ungesünder — crede
experto! — als der Wagner'sche Missbrauch der Musik, er ist die schlimmste
Art ,Idealismus' unter allem möglichen idealistischen Hokuspokus. Ich nehme
mir wenig Dinge so übel, als ich mir die Instinkt-Widrigkeit übel nehme, in
jungen Jahren schon diesem Laster Wagner verfallen zu sein. Wagner und
Jugend — aber das ist so viel wie Gift und Jugend... Erst seit sechs Jahren weiss
ich wieder, was Musik ist, Dank einer tiefen Zurückbesinnung auf meinen hier
fast vergessenen Instinkt, Dank vor Allem dem unschätzbaren Glück, einen
Nächstverwandten im Instinkte zu finden, meinen Freund Peter Gast, den ein-
zigen Musiker, der heute noch weiss, der noch kann, was Musik ist! — Was
ich überhaupt von der Musik will? Dass sie heiter und tief ist, wie ein Nach-
mittag im Oktober. Mild, gütig — nicht heiss... Dass sie in der Sonne liegt,
dass Alles süss, sonderbar, fein und geistig an ihr ist... Dass sie Bosheiten
in den Füssen hat... Jeder Versuch in diesen sechs Jahren, mir Wagner ,zu
Gemüthe zu führen', missrieth. Ich lief nach jedem ersten Akte, tödtlich gelang-
weilt, davon. Wie arm, wie sparsam und klug ist dieses ,Genie' von der Natur
angelegt! welche Geduld muss man haben, bis ihm wieder Etwas einfällt! Wie
viele Magen muss er selber gehabt haben, um immer noch einmal wiederzu-
käuen, was er uns eben schon unerbittlich vorgekäut hat! Ich nenne ihn Mag-
ner..." (KSA 14, 477 f.).
In dieser früheren Fassung ist nicht nur die Kritik an Wagner viel schärfer
formuliert — die letzte Fassung des Abschnitts gesteht zumindest vordergrün-
dig eine tiefe Dankesschuld ein —, sondern vor allem ist auch die Bedeutung
der Musik als bloße Erholung radikal nivelliert. Dadurch wird freilich N.s eige-
nes Frühwerk, insbesondere Die Geburt der Tragödie, unterminiert, ist dort
doch der Glaube an die kulturreformatorische Kraft der Musik unter dem Ein-
fluss Wagners leitend. Hätte N. dies so stehen lassen, wäre es ihm erheblich
schwerer gefallen, sein Leben und sein Denken als Einheit erscheinen zu las-
sen. Stattdessen hätte sich das Bild eines von Gegensätzen bestimmten Lebens-
und Denkweges verfestigt. Daher kann man die in der letzten Fassung von EH
Warum ich so klug bin 5 gemachte Verbeugung vor Wagner als Bestandteil
einer Vereinheitlichung des Ich-Bildes in EH verstehen — einer Vereinheitli-
chung, die nicht verhehlt, dass Wagner hier nicht um seiner selbst willen,
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Bis zur Überarbeitung Anfang Dezember 1888 lautete dieser Abschnitt: „Die
Musik — um des Himmels Willen! Halten wir sie fest als Erholung und als
nichts Andres!... Um keinen Preis darf sie uns Das sein, wozu sie heute durch
den allermächtigsten Missbrauch geworden ist, — ein Aufregungsmittel,
[Podach 1961, 241 hat: Aufreizungsmittel] ein Peitschenschlag mehr für
erschöpfte Nerven, eine blosse Wagnerei! — Nichts ist ungesünder — crede
experto! — als der Wagner'sche Missbrauch der Musik, er ist die schlimmste
Art ,Idealismus' unter allem möglichen idealistischen Hokuspokus. Ich nehme
mir wenig Dinge so übel, als ich mir die Instinkt-Widrigkeit übel nehme, in
jungen Jahren schon diesem Laster Wagner verfallen zu sein. Wagner und
Jugend — aber das ist so viel wie Gift und Jugend... Erst seit sechs Jahren weiss
ich wieder, was Musik ist, Dank einer tiefen Zurückbesinnung auf meinen hier
fast vergessenen Instinkt, Dank vor Allem dem unschätzbaren Glück, einen
Nächstverwandten im Instinkte zu finden, meinen Freund Peter Gast, den ein-
zigen Musiker, der heute noch weiss, der noch kann, was Musik ist! — Was
ich überhaupt von der Musik will? Dass sie heiter und tief ist, wie ein Nach-
mittag im Oktober. Mild, gütig — nicht heiss... Dass sie in der Sonne liegt,
dass Alles süss, sonderbar, fein und geistig an ihr ist... Dass sie Bosheiten
in den Füssen hat... Jeder Versuch in diesen sechs Jahren, mir Wagner ,zu
Gemüthe zu führen', missrieth. Ich lief nach jedem ersten Akte, tödtlich gelang-
weilt, davon. Wie arm, wie sparsam und klug ist dieses ,Genie' von der Natur
angelegt! welche Geduld muss man haben, bis ihm wieder Etwas einfällt! Wie
viele Magen muss er selber gehabt haben, um immer noch einmal wiederzu-
käuen, was er uns eben schon unerbittlich vorgekäut hat! Ich nenne ihn Mag-
ner..." (KSA 14, 477 f.).
In dieser früheren Fassung ist nicht nur die Kritik an Wagner viel schärfer
formuliert — die letzte Fassung des Abschnitts gesteht zumindest vordergrün-
dig eine tiefe Dankesschuld ein —, sondern vor allem ist auch die Bedeutung
der Musik als bloße Erholung radikal nivelliert. Dadurch wird freilich N.s eige-
nes Frühwerk, insbesondere Die Geburt der Tragödie, unterminiert, ist dort
doch der Glaube an die kulturreformatorische Kraft der Musik unter dem Ein-
fluss Wagners leitend. Hätte N. dies so stehen lassen, wäre es ihm erheblich
schwerer gefallen, sein Leben und sein Denken als Einheit erscheinen zu las-
sen. Stattdessen hätte sich das Bild eines von Gegensätzen bestimmten Lebens-
und Denkweges verfestigt. Daher kann man die in der letzten Fassung von EH
Warum ich so klug bin 5 gemachte Verbeugung vor Wagner als Bestandteil
einer Vereinheitlichung des Ich-Bildes in EH verstehen — einer Vereinheitli-
chung, die nicht verhehlt, dass Wagner hier nicht um seiner selbst willen,