436 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Frankreich gleichermaßen vertraut war, lassen sich schwer auf einen Begriff
bringen. In FW 290, KSA 3, 530, 8-24 macht er sich das Anliegen, ,,[s]einem
Charakter ,Stil [zu] geben'" zu eigen und bagatellisiert zugleich die Frage nach
dem guten und schlechten Geschmack: „Zuletzt, wenn das Werk vollendet ist,
offenbart sich, wie es der Zwang des selben Geschmacks war, der im Grossen
und Kleinen herrschte und bildete: ob der Geschmack ein guter oder ein
schlechter war, bedeutet weniger, als man denkt, — genug, dass es Ein
Geschmack ist!" (Vgl. Za III Vom Geist der Schwere 2, KSA 4, 245, 11-13: „Das
aber — ist mein Geschmack: / — kein guter, kein schlechter, aber mein
Geschmack, dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe.") Zugleich werden
in FW 39, KSA 3, 406 f. Geschmacksveränderungen auf physiologische Gege-
benheiten zurückbuchstabiert, während N. im Nachlass 1884, KSA 11, 25[292],
86 die „grandiose [.] Paradoxie ,der Gott am Kreuze'" für eine in Europa
Jahrtausende währende Geschmacksverderbnis verantwortlich macht (vgl. JGB
46, KSA 5, 67).
292, 23-26 Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? — Aber Stacheln zu
haben ist eine Vergeudung, ein doppelter Luxus sogar, wenn es freisteht, keine
Stacheln zu haben, sondern offne Hände...] In einer Typologisierung von Stoi-
kern und Epikureern hält N. es in FW 306 nicht für geraten, sich eine „stoische
harte Haut mit Igelstacheln" (KSA 3, 544, 23) zuzulegen, wenn man die nötige
„feine Reizbarkeit" (544, 22) behalten will, deren ein geistig Arbeitender
bedürfe. In DD Von der Armuth des Reichsten, KSA 6, 407, 12 heißt es entspre-
chend lapidar: „Zarathustra ist kein Igel." Nicht einmal gegen die „Tugenden"
der „kleinen Leute" will Zarathustra sich auf diese Weise abschotten: „Ich bin
höflich gegen sie wie gegen alles kleine Aergerniss; gegen das Kleine stachlicht
zu sein dünkt mich eine Weisheit für Igel." (Za III Von der verkleinernden
Tugend 2, KSA 4, 212, 17-19) Auf eine entsprechende Abschottung zu verzich-
ten, scheint jenen „Willen zur Ökonomie grossen Stils" in der Selbstgestaltung
zum Ausdruck zu bringen, von dem AC Vorwort (KSA 6, 167, 20) spricht.
Die Igel-Metaphorik erinnert an Schopenhauers Stachelschwein-Parabel
(Parerga und Paralipomena, Bd. 2, Kapitel XXXI, § 413 [EA: § 396], Schopen-
hauer 1873-1874, 6, 689). Dort werden „Höflichkeit" und „Sitte" der Menschen
in Analogie gesetzt zur mittleren Entfernung von Stachelschweinen im Winter.
Zwischen den schmerzbereitenden Eigenschaften der Artgenossen und der
unerträglichen Kälte hin- und hergerissen, müssen sich diese Tiere nach eini-
ger Zeit in „mäßiger Entfernung" zusammenfinden, um möglichst wenig gesto-
chen zu werden und es zugleich möglichst warm zu haben. Wer freilich genü-
gend innere Wärme hat, kann nach Schopenhauer auch völlig auf
gesellschaftliche Nähe verzichten.
Frankreich gleichermaßen vertraut war, lassen sich schwer auf einen Begriff
bringen. In FW 290, KSA 3, 530, 8-24 macht er sich das Anliegen, ,,[s]einem
Charakter ,Stil [zu] geben'" zu eigen und bagatellisiert zugleich die Frage nach
dem guten und schlechten Geschmack: „Zuletzt, wenn das Werk vollendet ist,
offenbart sich, wie es der Zwang des selben Geschmacks war, der im Grossen
und Kleinen herrschte und bildete: ob der Geschmack ein guter oder ein
schlechter war, bedeutet weniger, als man denkt, — genug, dass es Ein
Geschmack ist!" (Vgl. Za III Vom Geist der Schwere 2, KSA 4, 245, 11-13: „Das
aber — ist mein Geschmack: / — kein guter, kein schlechter, aber mein
Geschmack, dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe.") Zugleich werden
in FW 39, KSA 3, 406 f. Geschmacksveränderungen auf physiologische Gege-
benheiten zurückbuchstabiert, während N. im Nachlass 1884, KSA 11, 25[292],
86 die „grandiose [.] Paradoxie ,der Gott am Kreuze'" für eine in Europa
Jahrtausende währende Geschmacksverderbnis verantwortlich macht (vgl. JGB
46, KSA 5, 67).
292, 23-26 Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? — Aber Stacheln zu
haben ist eine Vergeudung, ein doppelter Luxus sogar, wenn es freisteht, keine
Stacheln zu haben, sondern offne Hände...] In einer Typologisierung von Stoi-
kern und Epikureern hält N. es in FW 306 nicht für geraten, sich eine „stoische
harte Haut mit Igelstacheln" (KSA 3, 544, 23) zuzulegen, wenn man die nötige
„feine Reizbarkeit" (544, 22) behalten will, deren ein geistig Arbeitender
bedürfe. In DD Von der Armuth des Reichsten, KSA 6, 407, 12 heißt es entspre-
chend lapidar: „Zarathustra ist kein Igel." Nicht einmal gegen die „Tugenden"
der „kleinen Leute" will Zarathustra sich auf diese Weise abschotten: „Ich bin
höflich gegen sie wie gegen alles kleine Aergerniss; gegen das Kleine stachlicht
zu sein dünkt mich eine Weisheit für Igel." (Za III Von der verkleinernden
Tugend 2, KSA 4, 212, 17-19) Auf eine entsprechende Abschottung zu verzich-
ten, scheint jenen „Willen zur Ökonomie grossen Stils" in der Selbstgestaltung
zum Ausdruck zu bringen, von dem AC Vorwort (KSA 6, 167, 20) spricht.
Die Igel-Metaphorik erinnert an Schopenhauers Stachelschwein-Parabel
(Parerga und Paralipomena, Bd. 2, Kapitel XXXI, § 413 [EA: § 396], Schopen-
hauer 1873-1874, 6, 689). Dort werden „Höflichkeit" und „Sitte" der Menschen
in Analogie gesetzt zur mittleren Entfernung von Stachelschweinen im Winter.
Zwischen den schmerzbereitenden Eigenschaften der Artgenossen und der
unerträglichen Kälte hin- und hergerissen, müssen sich diese Tiere nach eini-
ger Zeit in „mäßiger Entfernung" zusammenfinden, um möglichst wenig gesto-
chen zu werden und es zugleich möglichst warm zu haben. Wer freilich genü-
gend innere Wärme hat, kann nach Schopenhauer auch völlig auf
gesellschaftliche Nähe verzichten.