Stellenkommentar EH Bücher, KSA 6, S. 302-303 465
sen: — mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eignen Miste.
Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was
Redlichkeit ist; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren
Cynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen,
wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche
Satyr laut werden." Hier sind also cynische Bücher keineswegs nachahmungs-
würdige Vorlagen für Denken und Schreiben des „Philosophen", aber doch
wesentliche Katalysatoren, weil sie offenbar kurz und grob Dinge beim Namen
nennen, die „der höhere Mensch" zumindest zur Kenntnis nehmen darf.
Die Selbstidentifikation mit Cynismus ist bei N. — gegen Sloterdijk 1983,
10 („Nietzsches entscheidende Selbstbezeichnung, oft übersehen, ist die eines
,Cynikers"') — keineswegs besonders prominent, aber doch im Blick auf EH
auffällig. Im Brief an Brandes vom 20. 11. 1888, KSB 8, Nr. 1151, S. 482, Z. 9-13
schrieb N.: „Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden
wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt ,Ecce homo' und ist ein Attentat
ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten: es endet in Donnern
und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist". N.
nimmt hier für EH jene literarische Strategie des Schamlos-Sprechens, Unver-
hohlen-Sprechens und des Verkürzt-Sprechens in Anspruch, die JGB 26 noch
den minderen, aber sich doch immerhin der Redlichkeit annähernden Geistern
zugeschrieben hat. N. bezeichnet sich nicht selbst als Cyniker, sondern charak-
terisiert die spezifische Schreibart von EH als cynisch, d. h. als abkürzend, als
anekdotisch und zugleich als satirisch (ein Kyniker gilt N. als Erfinder der
satura, vgl. NK KSA 6, 155, 21-24). Zugleich ist mit dem Etikett „Cynismus" eine
radikale Reduktion des Menschen auf seine Animalität angezeigt, wie sie gegen
alle christlichen und dualistischen Anthropologien beispielsweise in AC 14,
KSA 6, 180 f. behauptet wird. Zum Cynismus-Motiv im Umkreis von EH siehe
Niehues-Pröbsting 2005, ferner Niehues-Pröbsting 1980; zur kynischen Abkür-
zungsstrategie auch Stingelin 1993.
302, 32 Dyspepsie] „Dyspepsie (griech., ,schlechte oder gestörte Verdauung'),
das gewöhnlichste Symptom fast aller Magenkrankheiten, welches sich darin
äußert, daß die genossenen Speisen nur langsam und schwierig (Bradypepsie)
oder selbst gar nicht (Apepsie) verdaut werden, wobei allerhand lästige
Gefühle, wie Druck und Schmerzhaftigkeit der Magengegend, Übelkeit, Appe-
titlosigkeit, Neigung zu Erbrechen, Aufstoßen etc., hervortreten." (Meyer 1885-
1892, 5, 267) Nach GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14 litt Carlyle darunter
und wäre damit für die N.-Lektüre disqualifiziert, vgl. NK KSA 6, 119, 12 f., fer-
ner 271, 25.
303, 11-14 Die vollkommen lasterhaften „Geister", die „schönen Seelen", die in
Grund und Boden Verlognen, wissen schlechterdings nicht, was sie mit diesen
Büchern anfangen sollen] Vgl. NK KSA 6, 157, 2-4.
sen: — mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eignen Miste.
Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was
Redlichkeit ist; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren
Cynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen,
wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche
Satyr laut werden." Hier sind also cynische Bücher keineswegs nachahmungs-
würdige Vorlagen für Denken und Schreiben des „Philosophen", aber doch
wesentliche Katalysatoren, weil sie offenbar kurz und grob Dinge beim Namen
nennen, die „der höhere Mensch" zumindest zur Kenntnis nehmen darf.
Die Selbstidentifikation mit Cynismus ist bei N. — gegen Sloterdijk 1983,
10 („Nietzsches entscheidende Selbstbezeichnung, oft übersehen, ist die eines
,Cynikers"') — keineswegs besonders prominent, aber doch im Blick auf EH
auffällig. Im Brief an Brandes vom 20. 11. 1888, KSB 8, Nr. 1151, S. 482, Z. 9-13
schrieb N.: „Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden
wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt ,Ecce homo' und ist ein Attentat
ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten: es endet in Donnern
und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist". N.
nimmt hier für EH jene literarische Strategie des Schamlos-Sprechens, Unver-
hohlen-Sprechens und des Verkürzt-Sprechens in Anspruch, die JGB 26 noch
den minderen, aber sich doch immerhin der Redlichkeit annähernden Geistern
zugeschrieben hat. N. bezeichnet sich nicht selbst als Cyniker, sondern charak-
terisiert die spezifische Schreibart von EH als cynisch, d. h. als abkürzend, als
anekdotisch und zugleich als satirisch (ein Kyniker gilt N. als Erfinder der
satura, vgl. NK KSA 6, 155, 21-24). Zugleich ist mit dem Etikett „Cynismus" eine
radikale Reduktion des Menschen auf seine Animalität angezeigt, wie sie gegen
alle christlichen und dualistischen Anthropologien beispielsweise in AC 14,
KSA 6, 180 f. behauptet wird. Zum Cynismus-Motiv im Umkreis von EH siehe
Niehues-Pröbsting 2005, ferner Niehues-Pröbsting 1980; zur kynischen Abkür-
zungsstrategie auch Stingelin 1993.
302, 32 Dyspepsie] „Dyspepsie (griech., ,schlechte oder gestörte Verdauung'),
das gewöhnlichste Symptom fast aller Magenkrankheiten, welches sich darin
äußert, daß die genossenen Speisen nur langsam und schwierig (Bradypepsie)
oder selbst gar nicht (Apepsie) verdaut werden, wobei allerhand lästige
Gefühle, wie Druck und Schmerzhaftigkeit der Magengegend, Übelkeit, Appe-
titlosigkeit, Neigung zu Erbrechen, Aufstoßen etc., hervortreten." (Meyer 1885-
1892, 5, 267) Nach GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14 litt Carlyle darunter
und wäre damit für die N.-Lektüre disqualifiziert, vgl. NK KSA 6, 119, 12 f., fer-
ner 271, 25.
303, 11-14 Die vollkommen lasterhaften „Geister", die „schönen Seelen", die in
Grund und Boden Verlognen, wissen schlechterdings nicht, was sie mit diesen
Büchern anfangen sollen] Vgl. NK KSA 6, 157, 2-4.