478 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Brandes. Brandes hatte N. seinen Sammelband Moderne Geister (Brandes
1887b) geschenkt, der Ibsen einen ausführlichen, ursprünglich 1883 entstande-
nen Essay widmet. Diesen Essay legte Brandes in seinem Brief vom 11. 01. 1888
N. ans Herz (KGB III 6, Nr. 512, S. 143). Am 07. 03. 1888 hakte Brandes nach
und versuchte, N. die Ibsen-Lektüre schmackhaft zu machen (KGB III 6, Nr. 527,
S. 171), später — wie sein Brief an N. vom 23. 11. 1888 dokumentiert (KGB III 6,
Nr. 612, S. 361) — auch Ibsen die N.-Lektüre. Vielleicht hat N. auf diese Anre-
gung hin tatsächlich Ibsens „dramatisches Gedicht" Brand (Ibsen o. J.) gelesen,
das ihn zu seiner sarkastischen Bemerkung in 306, 34-307, 4 motiviert haben
könnte. Es ist in N.s Bibliothek erhalten, allerdings ohne Lesespuren (NPB 314).
Mit Sicherheit gelesen hat er Brandes' Ibsen-Essay. Ein Reflex dieser Lektüre
findet sich in einer Nachlass-Notiz, die vermutlich Teil eines Briefentwurfs an
Brandes war (NL 1887 [recte: 1888], KSA 12, 10[66], S. 495, korrigiert nach KGW
IX 6, W II 2, 87, 1-20; vgl. dazu auch Sträßner 2003, 17): „Ihr Henrik Ibsen
ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealism ,Willen zur
Wahrheit' [...] hat er sich nicht von dem Moral-Illusionism frei zu machen
gewagt, welcher ,Freiheit' sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist:
[...] die zweite Stufe in der Metamorphose vom ,Wille zur Macht' seitens derer,
denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit [...] von Seiten derer,
welche die Macht haben, kurz Gerechtig(keit) der Macht. / Auf der zweiten sagt
man ,Freiheit' dh. man will loskommen von denen, welche die Macht
haben. Auf der zdritten sagt man , gleiche Rechte'dh. man will, so lange
man noch nicht das Übergewicht hat, die Mitbewerber um Macht auf derselben
Stufe festhalten, auf der man steht auch die Mitbewerber hindern, in der Macht
zu wachsen" (in der wohl frühesten Fassung lautete dieser Entwurf nach KGW
IX 6, W II 2, 87, 1-12 noch folgendermaßen: „Ihr Henrik Ibsen ist mir sehr
deutlich geworden. Dies ist immer nur die Halbheit des Moral-Idiotismus, wel-
cher ,Freiheit' sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist: ein Ver
verkappter ,Wille zur Macht' seitens des derer, denen sie fehlt. Ein Schritt wei-
ter: und dieser (,)Wille zur Macht' strebt nicht mehr nach ,Freiheit', sondern
nach Gleichheit der Rechte dh. der Macht. Noch ein Schritt weiter und er strebt
nach Übergewicht").
Deutlich ist, dass Brandes' Ibsen-Essay auch die Vorlage für den Kontext
der Attacke in EH Warum ich so gute Bücher schreibe 5 abgegeben hat. Ibsen
ist N. verdächtig als Repräsentant eines unterdrückten und fehlenden Macht-
willens, der sich in Moral flüchtet, anstatt sie der Kritik zu unterziehen. Bran-
des spricht in seinem Essay von Ibsens „Entrüstungspessimismus" (Brandes
1887b, 429, vgl. NL 1888, KSA 13, 15[30], 424 und dazu Fornari 2009, 242) -
von einem Pessimismus, der „nicht metaphysischer, sondern moralischer
Natur" sei. Ibsen glaube an den Nutzen des Schmerzes, des Missgeschicks, der
Brandes. Brandes hatte N. seinen Sammelband Moderne Geister (Brandes
1887b) geschenkt, der Ibsen einen ausführlichen, ursprünglich 1883 entstande-
nen Essay widmet. Diesen Essay legte Brandes in seinem Brief vom 11. 01. 1888
N. ans Herz (KGB III 6, Nr. 512, S. 143). Am 07. 03. 1888 hakte Brandes nach
und versuchte, N. die Ibsen-Lektüre schmackhaft zu machen (KGB III 6, Nr. 527,
S. 171), später — wie sein Brief an N. vom 23. 11. 1888 dokumentiert (KGB III 6,
Nr. 612, S. 361) — auch Ibsen die N.-Lektüre. Vielleicht hat N. auf diese Anre-
gung hin tatsächlich Ibsens „dramatisches Gedicht" Brand (Ibsen o. J.) gelesen,
das ihn zu seiner sarkastischen Bemerkung in 306, 34-307, 4 motiviert haben
könnte. Es ist in N.s Bibliothek erhalten, allerdings ohne Lesespuren (NPB 314).
Mit Sicherheit gelesen hat er Brandes' Ibsen-Essay. Ein Reflex dieser Lektüre
findet sich in einer Nachlass-Notiz, die vermutlich Teil eines Briefentwurfs an
Brandes war (NL 1887 [recte: 1888], KSA 12, 10[66], S. 495, korrigiert nach KGW
IX 6, W II 2, 87, 1-20; vgl. dazu auch Sträßner 2003, 17): „Ihr Henrik Ibsen
ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem robusten Idealism ,Willen zur
Wahrheit' [...] hat er sich nicht von dem Moral-Illusionism frei zu machen
gewagt, welcher ,Freiheit' sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist:
[...] die zweite Stufe in der Metamorphose vom ,Wille zur Macht' seitens derer,
denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit [...] von Seiten derer,
welche die Macht haben, kurz Gerechtig(keit) der Macht. / Auf der zweiten sagt
man ,Freiheit' dh. man will loskommen von denen, welche die Macht
haben. Auf der zdritten sagt man , gleiche Rechte'dh. man will, so lange
man noch nicht das Übergewicht hat, die Mitbewerber um Macht auf derselben
Stufe festhalten, auf der man steht auch die Mitbewerber hindern, in der Macht
zu wachsen" (in der wohl frühesten Fassung lautete dieser Entwurf nach KGW
IX 6, W II 2, 87, 1-12 noch folgendermaßen: „Ihr Henrik Ibsen ist mir sehr
deutlich geworden. Dies ist immer nur die Halbheit des Moral-Idiotismus, wel-
cher ,Freiheit' sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist: ein Ver
verkappter ,Wille zur Macht' seitens des derer, denen sie fehlt. Ein Schritt wei-
ter: und dieser (,)Wille zur Macht' strebt nicht mehr nach ,Freiheit', sondern
nach Gleichheit der Rechte dh. der Macht. Noch ein Schritt weiter und er strebt
nach Übergewicht").
Deutlich ist, dass Brandes' Ibsen-Essay auch die Vorlage für den Kontext
der Attacke in EH Warum ich so gute Bücher schreibe 5 abgegeben hat. Ibsen
ist N. verdächtig als Repräsentant eines unterdrückten und fehlenden Macht-
willens, der sich in Moral flüchtet, anstatt sie der Kritik zu unterziehen. Bran-
des spricht in seinem Essay von Ibsens „Entrüstungspessimismus" (Brandes
1887b, 429, vgl. NL 1888, KSA 13, 15[30], 424 und dazu Fornari 2009, 242) -
von einem Pessimismus, der „nicht metaphysischer, sondern moralischer
Natur" sei. Ibsen glaube an den Nutzen des Schmerzes, des Missgeschicks, der