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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0508
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Stellenkommentar EH GT, KSA 6, S. 310 485

könnte, der erste, der im Dionysischen eine „Wurzel der gesamten griechischen
Kunst" gesehen hat. Wenn 310, 15-18 hingegen bedeuten soll, dass das Diony-
sische die einzige „Wurzel der gesamten griechischen Kunst" sein soll (immer-
hin wird keine andere Wurzel genannt), dann ist das tatsächlich eine „Neue-
rung", die weit über das von Besnard und Karl Otfried Müller Monierte
hinausgeht. Typischerweise versucht N. seine eigene Position durch die
Abgrenzung von allem bisher Gesagten zu profilieren, gleichgültig ob das alter-
tumswissenschaftlich irgendwie plausibel ist (was im gegebenen Fall Cancik
2000, 156-158 mit guten Gründen bestreitet).
310, 19-21 Sokrates als Werlczeug der griechischen Auflösung, als typischer
decadent zum ersten Male erkannt. „Vernünftigkeit" gegen Instinkt.] Vgl. NK
KSA 6, 69, 19-22. Die decadence-Terminologie wandte N. in GT auf Sokrates
gerade noch nicht an; damals galt Sokrates ihm auch als theoretischer Opti-
mist, während der griechische Philosoph in GD Das Problem des Sokrates in
einen lebensverneinenden Pessimisten verwandelt wird. 310, 19-21 lässt sich
jedoch beziehen auf GT 13, wo es zunächst heißt: „Mit Staunen erkannte er
[sc. Sokrates], dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne rich-
tige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. ,Nur
aus Instinct': mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der
sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die beste-
hende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke rich-
tet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst
aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des
Vorhandenen." (KSA 1, 89, 22-30) Im Fortgang erscheint das Daimonion als
eine neinsagende Instanz, als eine Instinkt-Deformation: „Einen Schlüssel zu
dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als
,Dämonion des Sokrates' bezeichnet wird. [...] Diese Stimme mahnt, wenn
sie kommt, immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich
abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd
entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct
gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und
abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das
Bewusstsein zum Schöpfer — eine wahre Monstrosität per defectum!" (Ebd.,
90, 16-28).
310, 23 f. Tiefes feindseliges Schweigen über das Christenthum im ganzen
Buche.] Tatsächlich erwähnt N. das Christentum in GT nur marginal. Sein
„Schweigen" betont er bereits in der Vorrede von 1886 (GT Versuch einer
Selbstkritik 5, KSA 1, 18, 5-10); in EH thematisiert er es wiederum, um den
Text von GT nachträglich auf die Antichrist-Thematik auszurichten, die seine
 
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