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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0531
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508 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

liches, Allzumenschliches, von den Unzeitgemäßen durch zwei Jahre
abgetrennt (1878), ist ein psychologisch curioser Fall. Es nennt sich ein Buch
,für freie Geister': es ist wiederum kein Buch für Deutsche. Wer es bloß in
der Tagedieb-Manier der Gebildeten oder der Gelehrten durchblättert, die-Bil-
dungsphilister nicht einmal in Betracht gezogen findet es klug, kühl, unter
Umständen geistreich, jedenfalls voll von Realitäten. Fast alle Probleme kom-
men, wie kurz auch immer, darin vor, die politischen eingerechnet, die antili-
beral bis zum Cynismus besprochen werden. Man versteht das Buch erst, wenn
man das, was mit jedem Satze abgelehnt wird, in aller Stärke hört: denn fast
jeder Satz drückt einen Sieg aus, ei-nen-Sieg über mich ... Dies Buch ist der
Denkstein für eine Katharsis. — Und die kühle, geistige, fast neutrale Attitüde
ist auch noch ein Sieg. Es ist der Widerspruch, der nicht mehr widerspricht,
der Ja sagen gelernt hat — das Wohlgefühl nach der Katharsis. — Die Herkunft
dieses Buchs geht in die Zeit der ersten Bayreuther Festspiele zurück; eine
heftige Crisis gegen Alles, was mich dort umgab, ist eine seiner Voraussetzun-
gen. Nicht nur daß mir damals das vollkommen Gleichgültige und Illusorische
des Wagnerschen ,Ideals' handgreiflich deutlich war, ich sah vor Allem, wie
selbst den Nächstbetheiligten die ,Sache' das ,Ideal' nicht die Hauptsache
war, — daß ganz andre Dinge wichtiger, leidenschaftlicher genommen wurden.
Dazu die erbarmungswürdige Gesellschaft der Patronats-Herrn und Patronats-
Weiblein, alle sehr verliebt, sehr gelangweilt und unmusikalisch bis zum Kat-
zenjammer. Typisch der alte Kaiser, der mit den Händen applaudirte, und sei-
nem Adjutanten dem Grafen Lehndorf dabei laut zurief: ,scheußlich! scheuß-
lich!' — Man hatte das ganze müssiggängerische Volk Gesindel Europas
beieinander, und jeder beliebige Fürst Beliebige gieng in Wagners Haus ein
und aus, wie als ob es sich in Bayreuth um einen Sport mehr handelte. Und
im Grunde war es auch nicht mehr. Man hatte einen Kunst-Vorwand für den
Müssiggang zu den alten Vorwänden hinzu entdeckt, eine ,große Oper' mit
Hindernissen; man fand in der durch ihre geheime Sexualität überredenden
Musik Wagners ein Bindemittel für eine Gesellschaft, in der Jedermann seinen
plaisirs nachging. Der Rest und, wenn man will, auch die Unschuld der
,Sache' waren die Idioten, die Nohl, Pohl, Kohl — letzterer der genius loci in
Bayreuth —, die eigentlichen Wagnerianer von Rasse, eine gott- und geistver-
lassene Bande mit starkem Magen, die Alles herunterfraß, was der Meister
,abfallen' ließ. Die Musik Wagners, man weiß es ja, besteht aus Abfällen...
Die Aufführung selbst war wenig werth; ich langweilte mich tödtlieh aschgrau
bei dieser vollkommen ,mystisch' gewordnen Musik, die, durch eine absurde
Tieferlegung des Orchesters, Einem nur noch als harmonischer (— bisweilen
auch unharmonischer) Nebel zum Bewußtsein kam. Was hier ,Rückkehr zur
Natur' ist, will sagen, die vollkommne Durchsichtigkeit des contrapunktischen
 
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