522 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
Ende dieses Aphorismus, der den Übergang von der „moralistischen Sentenz"
(KSA 2, 60, 30) zu einer wissenschaftlich-psychologischen Moral-Analyse
beschreibt, lautet: „Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon
jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem
Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der
Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des
Buches ,Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen' vermöge seiner
ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt?
,Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt
nicht näher, als der physische Mensch.' Dieser Satz, hart und schneidig gewor-
den unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht
einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem ,metaphysi-
schen Bedürfniss' der Menschen an die Wurzel gelegt wird, — ob mehr zum
Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? —
aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar
zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle gros-
sen Erkenntnisse haben." (KSA 2, 60, 34-61, 17).
Die auffälligste Veränderung in EH MA 6 zur Vorlage in MA I 37 besteht
beim Ree-Zitat in der Hinzufügung des erläuternden Nebensatzes „denn es
giebt keine intelligible Welt..." (KSA 6, 328, 16). Trotz der von N. gesetzten
Anführungszeichen fehlte gerade dies in der Einleitung zu Rees Werk: „Jetzt
aber, seit La Marek und Darwin geschrieben /VIII/ haben, können die
moralischen Phänomene eben so gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt
werden, wie die physischen: der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt
nicht näher, als der physische Mensch." (Ree 1877, VII f. = Ree 2004, 127) In
der Umarbeitung von EH requirierte N. Rees Erkenntnis als die eigene — nicht
nur, indem er das Ree-Zitat stillschweigend erweiterte, sondern auch, indem
er seine eigenen früheren Erläuterungen dazu auf seine Umwerthung aller Wer-
the hin perspektivierte und dafür sogar noch ein Datum, nämlich 1890 als
das geplante Erscheinungsjahr dieser Umwerthung einfügte. Ree hatte N. ein
Exemplar des Ursprungs der moralischen Empfindungen mit der Widmung:
„Dem Vater dieser Schrift dankbarst deren Mutter" (NPB 491) zukommen las-
sen, woraus N. eine Rechtfertigung für seine eigenmächtige Erweiterung des
ursprünglichen Zitat-Wortlautes abgeleitet haben mochte.
Den „typischen deutschen Professor", der „das ganze Buch als höheren
Reealismus verstehn zu müssen glaubte[.]" (KSA 6, 328, 5-7), verkörperte für
N. sein Jugendfreund Erwin Rohde, der ihm am 16. 06. 1878 geschrieben hatte:
„Kann man denn so seine Seele ausziehen und eine andre dafür annehmen?
Statt Nietzsche nun plötzlich Ree werden?" (KGB 11/6, 2, Nr. 1082, S. 896, Z. 18-
20) Kurz darauf antwortete N.: „Beiläufig: suche nur immer mich in meinem
Ende dieses Aphorismus, der den Übergang von der „moralistischen Sentenz"
(KSA 2, 60, 30) zu einer wissenschaftlich-psychologischen Moral-Analyse
beschreibt, lautet: „Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon
jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem
Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der
Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des
Buches ,Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen' vermöge seiner
ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt?
,Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt
nicht näher, als der physische Mensch.' Dieser Satz, hart und schneidig gewor-
den unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht
einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem ,metaphysi-
schen Bedürfniss' der Menschen an die Wurzel gelegt wird, — ob mehr zum
Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? —
aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar
zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle gros-
sen Erkenntnisse haben." (KSA 2, 60, 34-61, 17).
Die auffälligste Veränderung in EH MA 6 zur Vorlage in MA I 37 besteht
beim Ree-Zitat in der Hinzufügung des erläuternden Nebensatzes „denn es
giebt keine intelligible Welt..." (KSA 6, 328, 16). Trotz der von N. gesetzten
Anführungszeichen fehlte gerade dies in der Einleitung zu Rees Werk: „Jetzt
aber, seit La Marek und Darwin geschrieben /VIII/ haben, können die
moralischen Phänomene eben so gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt
werden, wie die physischen: der moralische Mensch steht der intelligiblen Welt
nicht näher, als der physische Mensch." (Ree 1877, VII f. = Ree 2004, 127) In
der Umarbeitung von EH requirierte N. Rees Erkenntnis als die eigene — nicht
nur, indem er das Ree-Zitat stillschweigend erweiterte, sondern auch, indem
er seine eigenen früheren Erläuterungen dazu auf seine Umwerthung aller Wer-
the hin perspektivierte und dafür sogar noch ein Datum, nämlich 1890 als
das geplante Erscheinungsjahr dieser Umwerthung einfügte. Ree hatte N. ein
Exemplar des Ursprungs der moralischen Empfindungen mit der Widmung:
„Dem Vater dieser Schrift dankbarst deren Mutter" (NPB 491) zukommen las-
sen, woraus N. eine Rechtfertigung für seine eigenmächtige Erweiterung des
ursprünglichen Zitat-Wortlautes abgeleitet haben mochte.
Den „typischen deutschen Professor", der „das ganze Buch als höheren
Reealismus verstehn zu müssen glaubte[.]" (KSA 6, 328, 5-7), verkörperte für
N. sein Jugendfreund Erwin Rohde, der ihm am 16. 06. 1878 geschrieben hatte:
„Kann man denn so seine Seele ausziehen und eine andre dafür annehmen?
Statt Nietzsche nun plötzlich Ree werden?" (KGB 11/6, 2, Nr. 1082, S. 896, Z. 18-
20) Kurz darauf antwortete N.: „Beiläufig: suche nur immer mich in meinem