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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0565
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542 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

ser H[ymnus] Zeugniß ablegt, ist in Hinsicht auf ein einstmaliges Verständ-
niß jenes psychologischen Problems, das ich bin, ein unschätzbarer Punkt;
und schon jetzt wird es nachdenken machen. Auch hat der H[ymnus] etwas
von Leidenschaft und Ernst an sich und präzisirt wenigstens einen Hauptaf-
fekt unter den Affekten, aus denen meine Philosophie gewachsen ist. Zu aller-
letzt: er ist etwas für Deutsche, ein Brückchen, auf dem vielleicht sogar
diese schwerfällige Rasse dazu gelangen kann, sich für eine ihrer seltsamsten
Mißgeburten zu interessiren. —" (N. an Köselitz, 27. 10. 1887, KSB 8, Nr. 940,
S. 179, Z. 44-55).
N.s Hoffnung, die er in seinem Brief an die Schwester vom 11. 11. 1887
kundtat, wonach der Hymnus „muthmaßlich schon diesen Winter an mehreren
Orten aufgeführt werden" würde, „zb. in Carlsruhe durch H(of)k(apell)m(eis-
ter) Mottl" (KSB 8, Nr. 949, S. 193, Z. 25-27), erwies sich als trügerisch. Seinem
Verleger Fritzsch hatte N. am 20. 08. 1887 noch in Aussicht gestellt: „Zehn
Capellmeister ausfindig zu machen, die den Hymnus auf ihr Winter-Pro-
gramm setzten, sollte nicht schwer sein." (KSB 8, Nr. 894, S. 131, Z. 19-21) Tat-
sächlich konnte N. keiner Aufführung des Werkes mehr beiwohnen; die Urauf-
führung erfolgte am 19. Oktober 1893 unter Köselitz' Leitung in Annaberg,
seiner Heimatstadt (Schaberg 2002, 203); erst 1926 fand in Wien die Premiere
vor größerem Publikum statt — und zwar ausgerichtet vom Berliner (!) Wagner-
Verein (!), der möglicherweise den Hymnus schon einmal kurz nach N.s Tod zu
Gehör gebracht hat (Thatcher 1976, 383, Fn. 77). Bei N.s Begräbnis wurde das
Gemeinschaftswerk nicht gespielt — was angesichts der Feindseligkeit Elisa-
beth Förster-N.s gegenüber Lou Andreas-Salome nicht überrascht.
336, 17-21 Der Text, ausdrücklich bemerkt, weil ein Missverständniss darüber
im Umlauf ist, ist nicht von mir: er ist die erstaunliche Inspiration einer jungen
Russin, mit der ich damals befreundet war, des Fräulein Lou von Salome.] N.
selbst hatte dieses „Missverständniss" in Umlauf gesetzt und dessen Verbrei-
tung begünstigt, bevor er es in Ecce homo aufklärte. Bis dahin ließ er seine
Leserschaft im Glauben, dass nicht nur die Melodie und der Text, sondern
auch der Satz des Stücks von ihm stamme. Die Partitur war 1887 ohne Angabe
der dreifachen Autorschaft erschienen: Köselitz, der Komponist der Chorfas-
sung, hatte am 11. 08. 1887 selbst darum gebeten, dass er nicht auf dem Titel-
blatt genannt werde (KGB III 6, Nr. 468, S. 64), und was die Autorin des
Gedichts betrifft, so hatte N. sie schlichtweg übergangen. Seiner Mutter schrieb
er am 03. 12. 1887 im Vertrauen: „Das Gedicht mag einstweilen als mein
Erzeugniß gelten (und gilt überall dafür) Ich werde schon eine Gelegenheit
finden, ,dem die Ehre zu geben, dem die Ehre gebührt'. Augenblicklich wäre
es unopportun." (KSB 8, Nr. 962, S. 208, Z. 13-16) Auch seine Schwester scheint
er in das Geheimnis der mehrfachen Urheberschaft eingeweiht zu haben. In
 
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