Stellenkommentar EH JGB, KSA 6, S. 350-351 575
Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur" herausgebro-
chen zu haben. Diese Kultur sei wiederum „eine Höhe und divinatorische Fein-
heit des historischen Sinns gewesen" (KSA 5, 130, 33 f.). Klingt das noch
nach einer Verteidigung Hegels und des „historischen Sinns" gegen Schopen-
hauer, so stellt JGB 223, KSA 5, 157, 2-19 dem „europäische[n] Mischmensch"
ein erheblich weniger wohlwollendes Zeugnis aus: Dieser sei ein „Plebejer",
der der „Kostüme" bedürfe und entsprechend die Geschichte als „Vorraths-
kammer der Kostüme" ansehe. Das 19. Jahrhundert erscheine deswegen als ein
Zeitalter permanent wechselnder historischer Kostümmoden; der „,historische
Geist' finde noch aus diesem Stilpotpourri seinen Vorteil, indem er immer wie-
der ein neues historisches Versatzstück ausprobiere, was unausweichlich den
„Karneval grossen Stils" nach sich ziehe. Der darauffolgende Aphorismus
behandelt den „historischen Sinn" ausführlicher, nämlich als ein für das
19. Jahrhundert typisch gewordenes Vermögen, „die Rangordnung von Werth-
schätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft,
ein Mensch gelebt hat, der ,divinatorische Instinkt' für die Beziehungen dieser
Werthschätzungen" (JGB 224, KSA 5, 157, 28-31). Dieser Sinn wird selber histo-
risch-genealogisch auf seine eigene Entstehungsbedingung befragt, als da
wäre: die „bezaubernde[.] und tolle[.] Halbbarbarei [...], in welche Europa
durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden
ist" (ebd., 158, 3-5).
So gerät der historische Sinn, den man in JGB 224 im Prozess der Selbstre-
flexion beobachten kann — im Modus des historischen Sinns denkt N. über
den historischen Sinn nach —, in den Geruch der Unvornehmheit; historischer
Sinn bedeute „beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und
die Zunge für Alles" (ebd., 158, 18-20). Eine vornehme Kultur wie das französi-
sche siede classique habe diesen Sinn nicht besitzen können, ihm habe die
„unterwürfige Plebejer-Neugierde" (ebd., 159, 4) des historischen Sinns gefehlt.
„Wir Menschen des ,historischen Sinns': wir haben als solche unsre Tugenden,
es ist nicht zu bestreiten, — wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tap-
fer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig,
sehr entgegenkommend" (ebd., 159, 17-21). Letzlich stünden die Vertreter des
historischen Sinns — N. benutzt weiter die Leser und Autor inkludierende 1.
Person Plural — „in einem nothwendigen Gegensatz zum guten Geschmacke"
(ebd., 159, 31 f.). Dem historischen Sinn fehle die Fähigkeit, „das eigentlich
Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und hal-
kyonischer Selbstgenügsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge
zeigen, die sich vollendet haben" (ebd., 159, 27-30), zu begreifen und zu schät-
zen. Einerseits nimmt N. mit dem ostinaten Gebrauch des „Wir" den histori-
schen Sinn durchaus für sich in Anspruch und gibt sogar in der historisch-
Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur" herausgebro-
chen zu haben. Diese Kultur sei wiederum „eine Höhe und divinatorische Fein-
heit des historischen Sinns gewesen" (KSA 5, 130, 33 f.). Klingt das noch
nach einer Verteidigung Hegels und des „historischen Sinns" gegen Schopen-
hauer, so stellt JGB 223, KSA 5, 157, 2-19 dem „europäische[n] Mischmensch"
ein erheblich weniger wohlwollendes Zeugnis aus: Dieser sei ein „Plebejer",
der der „Kostüme" bedürfe und entsprechend die Geschichte als „Vorraths-
kammer der Kostüme" ansehe. Das 19. Jahrhundert erscheine deswegen als ein
Zeitalter permanent wechselnder historischer Kostümmoden; der „,historische
Geist' finde noch aus diesem Stilpotpourri seinen Vorteil, indem er immer wie-
der ein neues historisches Versatzstück ausprobiere, was unausweichlich den
„Karneval grossen Stils" nach sich ziehe. Der darauffolgende Aphorismus
behandelt den „historischen Sinn" ausführlicher, nämlich als ein für das
19. Jahrhundert typisch gewordenes Vermögen, „die Rangordnung von Werth-
schätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft,
ein Mensch gelebt hat, der ,divinatorische Instinkt' für die Beziehungen dieser
Werthschätzungen" (JGB 224, KSA 5, 157, 28-31). Dieser Sinn wird selber histo-
risch-genealogisch auf seine eigene Entstehungsbedingung befragt, als da
wäre: die „bezaubernde[.] und tolle[.] Halbbarbarei [...], in welche Europa
durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden
ist" (ebd., 158, 3-5).
So gerät der historische Sinn, den man in JGB 224 im Prozess der Selbstre-
flexion beobachten kann — im Modus des historischen Sinns denkt N. über
den historischen Sinn nach —, in den Geruch der Unvornehmheit; historischer
Sinn bedeute „beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und
die Zunge für Alles" (ebd., 158, 18-20). Eine vornehme Kultur wie das französi-
sche siede classique habe diesen Sinn nicht besitzen können, ihm habe die
„unterwürfige Plebejer-Neugierde" (ebd., 159, 4) des historischen Sinns gefehlt.
„Wir Menschen des ,historischen Sinns': wir haben als solche unsre Tugenden,
es ist nicht zu bestreiten, — wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tap-
fer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig,
sehr entgegenkommend" (ebd., 159, 17-21). Letzlich stünden die Vertreter des
historischen Sinns — N. benutzt weiter die Leser und Autor inkludierende 1.
Person Plural — „in einem nothwendigen Gegensatz zum guten Geschmacke"
(ebd., 159, 31 f.). Dem historischen Sinn fehle die Fähigkeit, „das eigentlich
Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und hal-
kyonischer Selbstgenügsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge
zeigen, die sich vollendet haben" (ebd., 159, 27-30), zu begreifen und zu schät-
zen. Einerseits nimmt N. mit dem ostinaten Gebrauch des „Wir" den histori-
schen Sinn durchaus für sich in Anspruch und gibt sogar in der historisch-