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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0602
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Stellenkommentar EH GM, KSA 6, S. 352-353 579

propagiert, dort jedoch den in GM II herausgestellten Mechanismus der nach
innen umgeleiteten Aggression noch nicht namhaft gemacht: „Der Glaube an
Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also nicht die Stimme Gottes in
der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen."
(KSA 2, 576, 13-15) An diesem Beispiel lässt sich die Entwicklung von N.s
moralgenealogischen Überlegungen gut nachvollziehen: Nach MA II WS 52
sind es verinnerlichte äußere „Autoritäten", die unser Gewissen konstituieren,
während GM II den Anspruch erhebt, noch tiefer zu graben, eben die „Quelle"
des Gewissens in einer dem Menschen eigenen, aber gezielt umgelenkten Kraft
entdeckt zu haben. Das Erklärungsgerüst von MA II WS 52 bleibt da zwar beste-
hen, wird aber entscheidend ergänzt um eine Antwort auf die sich aufdrän-
gende Frage, wie denn die „Autoritäten" in unseren Kopf überhaupt haben
hineingeraten können.
Die Auffassung, das Gewissen sei „die Stimme Gottes im Menschen", war
zu N.s Zeit bei christlichen Autoren weit verbreitet, obwohl sie häufig bestritten
wurde (z. B. von Biedermann 1869, 68). Auffällig ist, dass jener Theologe, mit
dem N. im August 1888 oft lange Spaziergänge unternommen hat, nämlich
Julius Kaftan (vgl. NK 299, 11-16), eindringlich auf dieser Definition des Gewis-
sens beharrte: „Wie sollte das Gewissen jene Würde und jene Zähigkeit, die es
hat, nicht besitzen, wenn es doch die Stimme Gottes im Menschen ist?" (Kaftan
1888, 356, vgl. Kaftan 1879, 38: „Das Gewissen ist etwas Uebernatürliches. Das
Gewissen ist die Stimme Gottes im Menschen.") Die Vermutung liegt nahe,
dass N. in Gesprächen mit Kaftan die Formulierung unterkam, die sich so im
Wortlaut weder in MA II WS 52 noch sonst in N.s Werken findet.
352, 22-24 es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet,
nachdem er nicht mehr nach aussen hin sich entladen kann] Die griffige Formu-
lierung „Instinkt der Grausamkeit" kommt in GM nicht vor; N. verwendete sie
sonst nur noch einmal in anderem, für die Frage nach der Gewissensentste-
hung nicht relevantem Zusammenhang (NL 1884, KSA 11, 26[359], 5 f.). Sie
taucht sonst im historischen und biologischen Schrifttum des 19. Jahrhunderts
gelegentlich auf; signifikant beispielsweise im Band Die menschliche Familie
nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung des von N. gerne herange-
zogenen Friedrich von Hellwald: Es werde „wohl niemanden in Erstaunen set-
zen, zu vernehmen, dass das Weib des Wilden heute noch vielfach, wie die
Tigerin, den Instinkt der Grausamkeit besitzt" (Hellwald 1888, 114).
352, 26-353, 7 Die dritte Abhandlung giebt die Antwort auf die Frage, woher
die ungeheure Macht des asketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt,
obwohl dasselbe das schädliche Ideal par excellence, ein Wille zum Ende,
ein decadence-Ideal ist. Antwort: nicht, weil Gott hinter den Priestern thätig
 
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