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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0606
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Stellenkommentar EH GD, KSA 6, S. 354-355 583

Bahn, auf der er bisher abwärts lief...] Die Formulierung entlehnte N. dem Brief
von Köselitz, 25. 10. 1888, KGB III 6, Nr. 594, S. 337, wo es über die GD-Lektüre
hieß: „Dort las ich wie trunken Ihre Gedanken. Es ist wirklich, als wäre Ihnen
ein zweites Bewusstsein gewachsen, als wäre bisher Alles dunkler Drang
gewesen, als hätte sich erst in Ihrem Geiste der ,Wille' sein Licht zur Vernei-
nung der schiefen Bahn angezündet, auf der er abwärts läuft." N. beutete
den Brief in EH noch weiter aus, vgl. NK 302, 22 u. 366, 8. In seiner Rezension
von WA für das zweite Novemberheft des Kunstwart von 1888 schrieb Köselitz:
„Für den Wert einer Sache beweist die Zustimmung von Millionen eben
Nichts; erst müßte der Wert dieser Millionen erwiesen sein. Wer aber wollte
den feststellen? Nach welchem Kanon sollte dies geschehen? Wer stände so
hoch über Zeiten und Völkern, um zu erkennen, welche Symptome sie im
Range hoch oder niedrig stellen? Und setzt auch dieses Erkennen nicht immer
wieder eine Richtschnur voraus, die wir entweder willkürlich ansetzen oder
unbewußt, instinktiv in uns tragen? Muß man nicht gleichsam ein zweites
Bewußtsein haben, um sich und seine Zeit in allen Lebensäußerungen,
selbst den bewußtesten (in Geschmack, Urteil, Moral), unter sich und in
Vergleichung zu aller Vergangenheit des Menschengeschlechts zu sehen?"
(KGB III 7/3, 2, S. 1069).
355, 8 f. Es ist zu Ende mit allem „dunklen Drang", der gute Mensch gerade
war sich am wenigsten des rechten Wegs bewusst...] N. spielt an auf den „Prolog
im Himmel" in Goethes Faust I, wo Gott Mephisto, der Dr. Faust in Versuchung
führen will, voraussagt: „Und steh beschämt, wenn du bekennen musst: / Ein
guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl
bewusst." (V. 327-329).
355, 9-13 Und allen Ernstes, Niemand wusste vor mir den rechten Weg, den
Weg aufwärts: erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzu-
schreibende Wege der Cultur — ich bin deren froher Botschafter...]
„Froher Botschafter" ist die Bezeichnung, die N. im Spätwerk auch Jesus zuer-
kannte (vgl. z. B. AC 35, KSA 6, 207, 23-25), und zwar durchaus anerkennend.
Zugleich nahm er an Stellen wie 355, 9-13 für sich selbst in Anspruch, ein
neues Evangelium, eben eine neue ,frohe Botschaft' zu verkündigen (vgl.
besonders Detering 2010). Deutlich ist, dass er hier Umwertung aller Werte
nicht bloß als ein Freistellen der (starken) Individuen zur Selbstgesetzgebung
verstand (so tendenziell in AC 54, vgl. z. B. NK KSA 6, 236, 10 f.), sondern er
der Kultur, den anderen Menschen, der Masse gerne Wege vorschreiben wollte.
Der Philosoph inszeniert sich im Übergang zur Besprechung von AC in EH GD
3 als Gesetzgeber, als der er in GD noch nicht so prominent in Erscheinung
getreten ist. Der Wegweiser ist in 355, 9-13 zugleich der Hoffnungsspender —
auch hierin rückt N. in eine Erlöserrolle.
 
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