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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0615
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592 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

108) Die von N. namhaft gemachte, seiner Ansicht nach historisch unstatthafte
Verbindung zwischen „sittlicher Weltordnung" und „Germanen" wird in der
einschlägigen Literatur nach der Bismarckschen Reichsgründung besonders
betont. So heißt es in Moriz Carrieres einschlägiger Monographie Die sittliche
Weltordnung: „Wie sehr aber der germanische Geist das Ethische in der Reli-
gion betont das wird nirgends deutlicher als in der Götterdämmerung. [...] Was
heißt das? Es heißt: Die sittliche Weltordnung ist das Allherrschende, allein
Ewige; nur der ist der wahre Gott der sie in seinem Reiche verwirklicht" (Car-
riere 1877, 376). Besonders Philosophen scheinen ungeheuer viel über den
moralischen Haushalt der Germanen gewusst zu haben — eine Erkenntnis, die
sie offenbar (wie Richard Wagner) aus dem eifrigen Studium der germanischen
Mythologie sowie der Germania des Tacitus schöpften. In Eduard von Hart-
manns historisch-kritischer Grundlegung seiner Religionsphilosophie, erschie-
nen unter dem Titel Das religiöse Bewusstsein der Menschheit, wird etwa tief
Einblick genommen in die angebliche germanische Wesensart: „Nur die[.]
ursprüngliche Charakter- und Geistesanlage der Germanen, ihre ethnologische
Tendenz zur Autonomie ist im Stande, die Erklärung für das Zustandekommen
des Glaubens an eine schuldbeladene und dem Untergang verfallene Götter-
welt erklärlich zu machen, von der wir bisher doch noch nicht mehr als ihre
widerspruchslose Möglichkeit begriffen haben. / Der Germane strebte nach
autonomer Sittlichkeit, und verwirklichte solche auf dem Gebiete der Gefühls-
moral instinktiv in einer seinen Zeitgenossen überlegenen Weise [...]. Hätte er
ohne Weiteres die Menschheit als immanente Verwirklichungsstätte der sittli-
chen Weltordnung betrachten wollen, so hätte er erstens diese sittliche Welt-
ordnung als objektive unpersönliche Macht ergreifen, und zweitens seine
sämmtlichen Naturgötter äusser Dienst setzen oder doch äusser Beziehung zu
seinem sittlichen Bewusstsein setzen müssen; jenen Begriff der sittlichen Welt-
ordnung sollte er aber erst erzeugen, und er konnte dies nicht anders als auf
Grund einer allmählichen Entwickelung des Inhalts seines religiösen Bewusst-
seins, d. h. seiner Naturgötter. [...] /179/ [...] [D]en Begriff der sittlichen Weltord-
nung als unpersönlicher Macht und objektiver geistiger Substanz des geistigen
Lebens gewann er unmittelbar für seine Götter, dadurch aber mittelbar auch
für sich, insofern das Verhalten der Götter zur sittlichen Weltordnung ihm als
Vorbild diente für sein eigenes Verhalten zu derselben. Wie die Pflanze abster-
ben darf, wenn sie ihren Zweck durch Hervorbringung der Frucht erfüllt hat,
so durfte der Germane seine Götterwelt der sittlichen Weltordnung opfern,
nachdem sie ihre sittliche Aufgabe in der Herausstellung dieser sittlichen Welt-
ordnung erfüllt hatte; grade indem er seine Götter als vergänglich anschaute,
erblickte er in ihnen und über ihnen das Göttliche, das in ihrem Untergang
seinen höchsten Triumph feierte." (Hartmann [1888], 5, 178 f., vgl. ebd., 349).
 
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