Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0622
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar EH WA, KSA 6, S. 360-361 599

die Maus ganz ausgeblendet: „Nun erst kreisst der Berg der Menschen-
Zukunft." Gedichtentwürfe aus dem Nachlass kehren die Konstellation schließ-
lich um, wenn N. von der „Maus" spricht, „die einen Berg gebar" (NL 1884,
KSA 11, 28[42], 316, 11, vgl. NL 1884, KSA 11, 28[9], 301, 19). Der Sinn der
Anspielung in 360, 26-28 ist deutlich und wendet die Mahnung des Horaz in
ihr Gegenteil: Horaz wollte davor warnen, prahlerisch große Werke anzukündi-
gen, die sich dann bloß als lächerliche Kleinigkeiten herausstellen. N. nahm
für sich in Anspruch, überaus große Werke geschaffen zu haben, die jedoch
von ihren deutschen Rezipienten auf Maus-Maß herabgewürdigt würden.
360, 31 f. Meine natürlichen Leser und Hörer sind jetzt schon Russen, Skandina-
vier und Franzosen] Vgl. NK 301, 11-17 u. NK KSA 6, 415, 7-11.
361, 1-5 Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntniss mit lauter zwei-
deutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur „unbewusste" Falschmün-
zer hervorgebracht (— Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher
gebührt dies Wort so gut wie Kant und Leibniz, es sind Alles blosse Schleierma-
cher —)] Der Name des protestantischen Theologen und Philosophen Friedrich
Schleiermacher ist für N. zweideutig, weil er eben nicht nur eine Person
bezeichnet, sondern auf das verweist, was laut N. für die ganze Gruppe der
genannten deutschen Denker gilt: Sie verdecken die Wirklichkeit hinter mehr
oder weniger undurchdringlichen Schleiern, die sie mit ihren philosophischen
Werken eifrig gewoben haben (vgl. zu N.s Gebrauch der „Schleiereule" NK
KSA 6, 437, 17). Schopenhauer wiederum bediente sich selbst der Schleier-Meta-
phorik, etwa in Welt als Wille und Vorstellung (Bd. 1, Buch 4, § 63): „den Blick
des rohen Individuums trübt, wie die Inder sagen, der Schleier der Maja: ihm
zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung" (Schopenhauer 1873-
1874, 2, 416). Er hielt also gerade jene Welt, die wir sinnlich wahrnehmen, für
einen Schleier, für bloßen Schein, um stattdessen die Wirklichkeit im Willen
jenseits der Individuation zu finden. In der Geburt der Tragödie ist N. noch mit
derselben Hinterweltsmetaphorik vom „Schleier der Maja" angetreten (GT 1,
KSA 1, 28, 10 u. ö.) — und mit dem Anspruch, selbst hinter die Erscheinungen
in den dionysischen Urgrund blicken zu können. Für den späten N. hingegen
zeigte sich in Schopenhauers Exposition die durchgehende „idealistische" Ten-
denz deutscher Philosophie, die sich wesentlich darin äußert, die sinnlich
wahrnehmbare Welt als scheinbar oder als nichtig abzuwerten. Die Liste ihm
widerwärtiger Philosophen, die N. in 361, 3 f. vorträgt, findet sich ähnlich auch
in Schopenhauers Auslassungen gegen seine Vorgänger, z. B. in den Parerga
und Paralipomena (Bd. 2, Kapitel I, § 9): „Auch nicht durch Kombinationsversu-
che mit Begriffen, wie sie so oft, zumal aber von den Sophisten unserer Zeit,
also von Fichte und Schelling, jedoch in größter Widerwärtigkeit von Hegel,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften