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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0635
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612 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

(NL 1888/89, KSA 13, 25[6], 641, 5-7) In JGB 208 wurden die ängstlichen Skepti-
ker gegen den „Pessimismus bonae voluntatis" ausgespielt, der nicht nur
„Nein" sagt, „sondern — schrecklich zu denken! Nein thut" (KSA 5, 137, 14 f.).
Die auf Gemütlichkeit und Ruhe bedachten skeptischen Horcher wähnen, „von
Ferne her irgend ein böses bedrohliches Geräusch" zu hören, „als ob irgend
ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes" (KSA 5, 137, 11-
13). Als solcher Sprengstoff, als rücksichtsloser und brachialer Zerstörer aller
Selbstverständlichkeiten begriff sich in JGB das sprechende „Ich" selber; was
dem Verfasser dann, sehr zu seiner Genugtuung, auch von Joseph Viktor Wid-
mann mit einer Besprechung des Werkes im Berner Bund vom 16./17. September
1886 attestiert wurde, vgl. NK KSA 6, 136, 17-21. N. fand an der von Widmann
strapazierten Sprengstoff-Metaphorik ganz offensichtlich Gefallen, so dass ihm
das Bekenntnis von 365, 7 f. ganz leicht in die Feder floss und Ende 1888 zu
einem Leitmotiv wurde: „Es giebt Nichts, das heute steht, was nicht umfällt,
ich bin mehr Dynamit als Mensch", ließ N. Paul Deussen am 26. 11. 1888 wissen
(KSB 8, Nr. 1159, S. 492, Z. 9f.), bezogen auf die „Umwerthung aller Wer-
the, mit dem Haupttitel ,der Antichrist'". Georg Brandes wurde in einem
Briefentwurf von Anfang Dezember ebenfalls bedeutet: „Alles ist auseinander
gesprengt, — ich bin das furchtbarste Dynamit, das es giebt." (KSB 8, Nr. 1170,
S. 500, Z. 12 f.) Im Briefentwurf vom 8. 12. 1888 an Helen Zimmern stand über
den Antichrist schließlich: „Es handelt sich um ein Attentat auf das Christen-
thum, das vollkommen wie Dynamit auf Alles wirkt, das im Geringsten mit
ihm verwachsen ist." (KSB 8, Nr. 1180, S. 512, Z. 8-11).
„Dynamit" veranschaulicht in N.s Spätschriften den destruktiven Effekt der
antichristlichen Umwertung. Er bringt die eschatologische Naherwartung einer
geglückten Liquidation des alteuropäischen Wert- und Moralgefüges zum Aus-
druck — als pointiertes Gegenstück zur Verfallslogik, die in der durch das
Christentum bestimmten Geschichte gewaltet haben soll. Die einzige Stelle, die
„Dynamit" auf die gegnerische Partei appliziert — nämlich AC 62, KSA 6, 252,
28 —, scheint schlecht zu der bis dorthin geschilderten Wirkungsweise des
Christentums zu passen, das sich als chronischer Parasitismus und nicht als
plötzlicher Zerstörungsakt zeigt. Freilich macht die Erwähnung von „christli-
chem Dynamit", an exponiertem Ort in der conclusio von AC, all jenen, die die
andern Dynamit-Vorkommen in Werken, Nachlass und Briefen vor Augen
haben, die strukturelle Parallelität, ja Korrespondenz der christlich-paulini-
schen und der antichristlich-nietzscheanischen Umwertungsgelüste deutlich.
So wie das Christentum für sich in Anspruch nimmt, mit ihm (und seinem
Erlöser) sei ein neuer Aeon angebrochen, und das Antlitz der Welt habe sich
grundstürzend gewandelt, tut N. dies als Antichrist, der sich in den Briefen
mit diesem „Attentat" identifiziert. Auch EH Warum ich ein Schicksal bin 1
 
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