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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0644
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Stellenkommentar EH Schicksal, KSA 6, S. 368 621

gegen die Kirche behauptet, sie habe keine „Nothstände" abschaffen wollen,
sondern sie vielmehr erfunden, „um sich zu verewigen..." In FW 56, KSA 3,
418, 18-27 wurde „Die Begierde nach Leiden" sozialpsychologisch mit
der Jugend der Gegenwart assoziiert: „Denke ich an die Begierde, Etwas zu
thun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt,
welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, — so
begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um aus
ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. Noth
ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichte-
ten, übertriebenen ,Nothstände' aller möglichen Classen und die blinde Bereit-
willigkeit, an sie zu glauben."
Notstände sind also jeweils ein Vehikel der Selbstkonstitution — entweder
indem man sie erschafft und erfindet (AC und FW), oder indem man sie in der
Wirklichkeit vorzufinden vorgibt, um mit ihnen zusammen die Wirklichkeit
selbst schlechtreden und hinwegschaffen zu können. Notstände waren unter
dem Namen „Übel" ein klassisches Argument, an der Wohlbeschaffenheit der
Welt und damit an der Güte des Schöpfergottes zu zweifeln. Dieses Argument
wurde von N. nicht mehr zugelassen, aber nicht, weil er den gütigen Schöpfer-
gott retten wollte (an ihn glaubte er natürlich nicht mehr), sondern weil er
eine ganz und gar innerweltliche Philosophie zu initiieren wünschte. Vgl. NK
368, 22-30.
368, 22-30 In der grossen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der
Realität (in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unaus-
rechenbaren Maasse nothwendiger als jene Form des kleinen Glücks, die soge-
nannte „Güte"; man muss sogar nachsichtig sein, um der letzteren, da sie in der
Instinkt-Verlogenheit bedingt ist, überhaupt einen Platz zu gönnen. Ich werde
einen grossen Anlass haben, die über die Maassen unheimlichen Folgen des
Optimismus, dieser Ausgeburt der homines optimi, für die ganze Geschichte
zu beweisen.] Emanuel Herrmann hatte in seinen „Studien" Cultur und Natur
dem Optimismus in der Gesamtökonomie der Natur einige von N. markierte
Überlegungen gewidmet (Herrmann 1887, 223-230), wobei Optimismus als Ver-
mögen erscheint, sich zu bescheiden und die Dinge viel rosiger zu sehen, als
sie sind. „Ueberhaupt ist der Optimismus eine Eigenthümlichkeit Derer, die in
Wahrheit vom Optimum am weitesten entfernt sind." (Ebd., 228) Aber der Opti-
mist sei wirtschaftlich nutzbringend, denn „sein ganzer Sinn hängt am Con-
sumiren" (ebd., 235). Bemerkenswert ist, dass N. mit der Rede von „der gros-
sen Ökonomie des Ganzen" nicht nur für sich reklamiert, im Unterschied zu
den decadents die eigentliche Beschaffenheit der Welt zu kennen, damit über
nicht-perspektivische Erkenntnis zu verfügen (vgl. NK 368, 16-22), sondern
dass er auch die Wohlbeschaffenheit dieser Welt im Ganzen zu unterstellen
 
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