I Überblickskommentar
1 Entstehungsgeschichte und Textgeschichte
Kurz nach dem Abschluss von Ecce homo im Spätherbst 1888 und unmittelbar
vor dem Zusammenbruch in Turin schrieb N. in den ersten Januartagen 1889
die Druckfassung seiner Dionysos-Dithyramben (DD) nieder (Faksimile der
Reinschrift bei Groddeck 1991, 1, Tafel 93-142; in Groddeck 1991 wird die Ent-
stehungsgeschichte von DD minutiös rekonstruiert). N. legte diesem Werk eine
Reihe früherer Texte zugrunde, die teils noch unveröffentlicht und Fragment
geblieben waren, teils einen Bestandteil des von ihm bisher als „geheim"
betrachteten und deshalb lediglich als Privatdruck einem engeren Kreis
bekannten vierten Teils von Also sprach Zarathustra bildeten. Daher bezeich-
nete N., als er am 1. Januar 1889 die Widmung an den französischen Schriftstel-
ler Catulle Mendes entwarf, nach einigen Korrekturen seine Dionysos-Dithyram-
ben im Ganzen als „Inedita und inaudita" — als „nicht Herausgegebenes und
Unerhörtes" (KSB 8, Nr. 1234, S. 570, Z. 1, vgl. das Faksimile der Widmung
Groddeck 1991, 1, Tafel 92). Mendes, der „Dichter der Isoline", „Freund und
Satyr", solle N.s „Geschenk der Menschheit überreichen" (KSB 8, Nr. 1234,
S. 570 f., Z. 1 f.), war also als eine Art Herausgeber vorgesehen.
N. hatte Mendes 1869/1870 wohl in Tribschen bei Wagners kennengelernt
(vgl. Reich 2004, 135; Groddeck 1991, 2, 467, Fn. 21). Das in N.s Anschreiben
an Mendes genannte Feenmärchen Isoline war erst am 26. 12. 1888 uraufgeführt
worden; N. hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Werk selbst (wie
Crawford 1995, 286 annimmt), sondern nur die Premierenbesprechung im Jour-
nal des Debats vom 31. 12. 1888 gelesen (Podach 1961, 372 f., ausführlich Ross
1994, 164-170). Ihr Verfasser war der von N. geschätzte Jules Lemaitre (vgl. NK
KSA 6, 285, 25 f.). Die Aufführung von Mendes' Isoline erscheint im ersten Satz
von Lemaitres enthusiastischer Rezension explizit als „unerhört" („inoui"),
worauf N.s Widmung der „inaudita" sichtlich anspielt. Mendes sei „un poete
voluptueux, et savant" („ein sinnlicher und weiser Dichter"), gegen den zwar
Stoiker und Christen Einwände erheben mögen, was aber an Lemaitres Sympa-
thie für diesen „somptueux magicien de lettres" („prachtvollen Magier der
Buchstaben") nicht zu rütteln vermag. „Il est, je crois, le seul homme de nos
jours ä qui il ait ete donne d'etre un poete erotique, ä la fagon de Tibulle ou
d'Ovide" („Er ist, glaube ich, der einzige Mensch unserer Tage, dem es gegeben
ist, erotischer Dichter zu sein, in der Art von Tibull oder Ovid"), der durch
„une souplesse et une richesse de forme, et des raffinemens de sensualite, ou
mieux, pour parier comme Milton, de ,pudeur impudique"' wirke (Lemaitre
1 Entstehungsgeschichte und Textgeschichte
Kurz nach dem Abschluss von Ecce homo im Spätherbst 1888 und unmittelbar
vor dem Zusammenbruch in Turin schrieb N. in den ersten Januartagen 1889
die Druckfassung seiner Dionysos-Dithyramben (DD) nieder (Faksimile der
Reinschrift bei Groddeck 1991, 1, Tafel 93-142; in Groddeck 1991 wird die Ent-
stehungsgeschichte von DD minutiös rekonstruiert). N. legte diesem Werk eine
Reihe früherer Texte zugrunde, die teils noch unveröffentlicht und Fragment
geblieben waren, teils einen Bestandteil des von ihm bisher als „geheim"
betrachteten und deshalb lediglich als Privatdruck einem engeren Kreis
bekannten vierten Teils von Also sprach Zarathustra bildeten. Daher bezeich-
nete N., als er am 1. Januar 1889 die Widmung an den französischen Schriftstel-
ler Catulle Mendes entwarf, nach einigen Korrekturen seine Dionysos-Dithyram-
ben im Ganzen als „Inedita und inaudita" — als „nicht Herausgegebenes und
Unerhörtes" (KSB 8, Nr. 1234, S. 570, Z. 1, vgl. das Faksimile der Widmung
Groddeck 1991, 1, Tafel 92). Mendes, der „Dichter der Isoline", „Freund und
Satyr", solle N.s „Geschenk der Menschheit überreichen" (KSB 8, Nr. 1234,
S. 570 f., Z. 1 f.), war also als eine Art Herausgeber vorgesehen.
N. hatte Mendes 1869/1870 wohl in Tribschen bei Wagners kennengelernt
(vgl. Reich 2004, 135; Groddeck 1991, 2, 467, Fn. 21). Das in N.s Anschreiben
an Mendes genannte Feenmärchen Isoline war erst am 26. 12. 1888 uraufgeführt
worden; N. hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Werk selbst (wie
Crawford 1995, 286 annimmt), sondern nur die Premierenbesprechung im Jour-
nal des Debats vom 31. 12. 1888 gelesen (Podach 1961, 372 f., ausführlich Ross
1994, 164-170). Ihr Verfasser war der von N. geschätzte Jules Lemaitre (vgl. NK
KSA 6, 285, 25 f.). Die Aufführung von Mendes' Isoline erscheint im ersten Satz
von Lemaitres enthusiastischer Rezension explizit als „unerhört" („inoui"),
worauf N.s Widmung der „inaudita" sichtlich anspielt. Mendes sei „un poete
voluptueux, et savant" („ein sinnlicher und weiser Dichter"), gegen den zwar
Stoiker und Christen Einwände erheben mögen, was aber an Lemaitres Sympa-
thie für diesen „somptueux magicien de lettres" („prachtvollen Magier der
Buchstaben") nicht zu rütteln vermag. „Il est, je crois, le seul homme de nos
jours ä qui il ait ete donne d'etre un poete erotique, ä la fagon de Tibulle ou
d'Ovide" („Er ist, glaube ich, der einzige Mensch unserer Tage, dem es gegeben
ist, erotischer Dichter zu sein, in der Art von Tibull oder Ovid"), der durch
„une souplesse et une richesse de forme, et des raffinemens de sensualite, ou
mieux, pour parier comme Milton, de ,pudeur impudique"' wirke (Lemaitre