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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0667
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644 Dionysos-Dithyramben

Band in 1000 Exemplaren im März 1892 ausgeliefert werden (Nietzsche 1891;
zu den Details Schaberg 2002, 236-239). Die erste vollständige Ausgabe der
Dionysos-Dithyramben, d. h. aller neun Gedichte in der Reihenfolge der Rein-
schrift von Anfang Januar 1889, erschien erst im April 1898 im Rahmen der
von Elisabeth Förster 1898 veranstalteten Ausgabe der Gedichte und Sprüche
ihres Bruders mit einer Auflage von 2000 Exemplaren (Nietzsche 1898, 133-
168 mit der irreführenden Jahresangabe „1884-1888"; vgl. Kr I, 500).
2 Konzeption, Leitmotive und Stil
2.1 Die Tradition des Dithyrambos
Der Zusammenhang von Dionysos-Kult und Dithyramben-Dichtung, den N.
schon in der Geburt der Tragödie betont, ist bereits in frühgriechischer Zeit
bezeugt. Von außerordentlicher Bedeutung über Jahrhunderte hinweg war die
mit dem Kult verbundene Dionysos-Mythologie in der griechischen und römi-
schen Dichtung sowie in der Poetik. Auch in der neuzeitlichen Dichtung wirkte
sie seit dem Humanismus vielfältig fort. Im 7. Jahrhundert v. Chr., also noch
vor der Entstehung der Tragödie, besagt ein Dithyramben-Fragment des Archi-
lochos, den N. in GT 5 und 6 zum Prototyp des Lyrikers erhebt, dass Dithyram-
ben zu Ehren des Dionysos gesungen wurden. Im öffentlichen Dionysoskult
kam dem Dithyrambos eine geradezu initiatorische Funktion zu, denn am ers-
ten Tag der Großen Dionysien, des Frühjahrsfestes zu Ehren des Dionysos, fand
in Athen ein Dithyramben-Wettkampf statt. Nachdem am ersten Tag zwanzig
Dithyramben und am zweiten Tag fünf Komödien aufgeführt worden waren,
gipfelte das große Dionysosfest am dritten, vierten und fünften Tag in der
Aufführung von Tragödien. An jedem dieser drei Tage gelangte eine tragische
Tetralogie aus drei thematisch verbundenen Tragödien und einem abschließen-
den Satyrspiel auf die Bühne. Dieses kultische wie kulturelle Ereignis diente
der Gemeinschaftsbildung und Identitätsstiftung. Der Bezug auf Dionysos, den
gerade in solchen Festen allen gemeinsamen Gott, sollte die Poliskultur stär-
ken.
In der Forschung zu N.s Zeit, etwa bei dem von N. intensiv studierten
Gottfried Bernhardy, galt der Dithyrambos als „letzte[r] Abschluss" der „meli-
sche[n] Gattung" (Bernhardy 1845, 438). „Der dithyrambische Gesang pries die
Gaben und wundervollen Thaten eines der jüngsten Götter, des Dioynsos, wel-
cher weder im nationalen Bewusstsein noch im politischen Kultus der Dorier
und Aeolier einen Platz behauptete, sondern unter denjenigen Völkerschaften
eine Heimat bekam, die mit der vom Orient verpflanzten (phallischen) Symbo-
 
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