Überblickskommentar 645
lik der agrarischen Naturmächte, mit Wein und Gartenbau sowie mit den fröh-
lichen Festen der Weinlese sich befreundeten." (Ebd., 439) Erst allmählich
konnte er sich in Athen Raum schaffen. „Nachdem aber der Dithyrambus in
die Tragödie sich umgesetzt und durch die geistige Macht der neuen Gattung
alle wesentliche Bedeutung eingebüsst hatte, blieb ihm nur ein untergeordne-
ter Platz, und das Verfahren derjenigen welche herantraten um den Bedarf des
Staates zu befriedigen, drückte den auf keine Dauer berechneten Gesang in
der Meinung eines urteilsfähigen Publikums tief herab." (Ebd., 440).
Mit dem Untergang der antiken Kulte und der Polis verschwand der Diony-
soskult samt den mit ihm zusammenhängenden Aufführungen. Dies betraf
auch die Dithyramben-Dichtung, die sich auf eine rein literarische Gattung
reduzierte, allerdings oft noch mit gelehrten Bezügen auf die Dionysos-Mytho-
logie. Zugleich mutierte sie von einer chorlyrischen und insofern auf gemein-
schaftlichen Gesang angelegten Kunstform zu einer virtuosen individuellen
Dichtung. Dass der junge Goethe für seine Geniehymnen, in deren Mittelpunkt
die Feier des großen schöpferischen Individuums steht, gerade die dithyrambi-
sche Tonart wählte, ist der markanteste Ausdruck dieses Individualisierungs-
prozesses. Dabei kam auch die poetologische Selbstreflexion zur Geltung, die
N. gleich im ersten seiner Dionysos-Dithyramben (Nur Narr! Nur Dichter!)
durchaus nach antiker Tradition exponiert, wenn auch modern problematisie-
rend.
Dionysos-Bacchus war der Gott einer spezifisch rauschhaft inspirierten
Dichtung und ein Gott der Dichter. Schon aus dem erwähnten Fragment des
Archilochos geht dies hervor, und bezeichnenderweise steht am Beginn der
sog. Homerischen Hymnen folgende Anrufung des Dichtergottes Dionysos: „Wir
Sänger aber / Singen von dir am Beginn und am Ende — unmöglich ists, / Daß
einer, deiner vergessend, heiligen Sangs gedächte" (V. 17-19). Noch wichtiger
für den Traditionsprozess, in dem auch N. steht, ist Horaz mit seinen Bacchus-
Oden. In Carmina II, 19, einem der wirkungsreichsten Zeugnisse der Dionysos-
Literatur, feiert er Bacchus als Gott elementarer dichterischer Inspiration. In
Carmina III, 25 imaginiert sich Horaz selbst als dionysisch Inspirierten, indem
er die charakteristischen Stilzüge des Dithyrambos inszeniert: Mit jähen Vers-
enjambements, gewaltsamen Strophensprüngen, weit gespannter Syntax und
kühnen Metaphern erhebt er einen höchsten Anspruch. In der neuzeitlichen
Dichtung setzt sich diese poetologische Berufung auf Dionysos fort, am inten-
sivsten bei N.s Lieblingsdichter aus Schulzeiten, bei Hölderlin, der mehrere
seiner poetologischen Gedichte ganz ins Zeichen des Dionysos und seiner
inspirierenden Kraft stellt, darunter die fragmentarisch gebliebene, an Pindars
dithyrambischem Stil orientierte Hymne Wie wenn am Feiertage.
Pindar war die dichterische Leitfigur für die neuzeitliche dithyrambische
Dichtung. Nach ihm benannte N. in seiner Basler Lyrik-Vorlesung ein ganzes
lik der agrarischen Naturmächte, mit Wein und Gartenbau sowie mit den fröh-
lichen Festen der Weinlese sich befreundeten." (Ebd., 439) Erst allmählich
konnte er sich in Athen Raum schaffen. „Nachdem aber der Dithyrambus in
die Tragödie sich umgesetzt und durch die geistige Macht der neuen Gattung
alle wesentliche Bedeutung eingebüsst hatte, blieb ihm nur ein untergeordne-
ter Platz, und das Verfahren derjenigen welche herantraten um den Bedarf des
Staates zu befriedigen, drückte den auf keine Dauer berechneten Gesang in
der Meinung eines urteilsfähigen Publikums tief herab." (Ebd., 440).
Mit dem Untergang der antiken Kulte und der Polis verschwand der Diony-
soskult samt den mit ihm zusammenhängenden Aufführungen. Dies betraf
auch die Dithyramben-Dichtung, die sich auf eine rein literarische Gattung
reduzierte, allerdings oft noch mit gelehrten Bezügen auf die Dionysos-Mytho-
logie. Zugleich mutierte sie von einer chorlyrischen und insofern auf gemein-
schaftlichen Gesang angelegten Kunstform zu einer virtuosen individuellen
Dichtung. Dass der junge Goethe für seine Geniehymnen, in deren Mittelpunkt
die Feier des großen schöpferischen Individuums steht, gerade die dithyrambi-
sche Tonart wählte, ist der markanteste Ausdruck dieses Individualisierungs-
prozesses. Dabei kam auch die poetologische Selbstreflexion zur Geltung, die
N. gleich im ersten seiner Dionysos-Dithyramben (Nur Narr! Nur Dichter!)
durchaus nach antiker Tradition exponiert, wenn auch modern problematisie-
rend.
Dionysos-Bacchus war der Gott einer spezifisch rauschhaft inspirierten
Dichtung und ein Gott der Dichter. Schon aus dem erwähnten Fragment des
Archilochos geht dies hervor, und bezeichnenderweise steht am Beginn der
sog. Homerischen Hymnen folgende Anrufung des Dichtergottes Dionysos: „Wir
Sänger aber / Singen von dir am Beginn und am Ende — unmöglich ists, / Daß
einer, deiner vergessend, heiligen Sangs gedächte" (V. 17-19). Noch wichtiger
für den Traditionsprozess, in dem auch N. steht, ist Horaz mit seinen Bacchus-
Oden. In Carmina II, 19, einem der wirkungsreichsten Zeugnisse der Dionysos-
Literatur, feiert er Bacchus als Gott elementarer dichterischer Inspiration. In
Carmina III, 25 imaginiert sich Horaz selbst als dionysisch Inspirierten, indem
er die charakteristischen Stilzüge des Dithyrambos inszeniert: Mit jähen Vers-
enjambements, gewaltsamen Strophensprüngen, weit gespannter Syntax und
kühnen Metaphern erhebt er einen höchsten Anspruch. In der neuzeitlichen
Dichtung setzt sich diese poetologische Berufung auf Dionysos fort, am inten-
sivsten bei N.s Lieblingsdichter aus Schulzeiten, bei Hölderlin, der mehrere
seiner poetologischen Gedichte ganz ins Zeichen des Dionysos und seiner
inspirierenden Kraft stellt, darunter die fragmentarisch gebliebene, an Pindars
dithyrambischem Stil orientierte Hymne Wie wenn am Feiertage.
Pindar war die dichterische Leitfigur für die neuzeitliche dithyrambische
Dichtung. Nach ihm benannte N. in seiner Basler Lyrik-Vorlesung ein ganzes