Überblickskommentar 647
Dithyramben, verschiebt sich N.s genialisch-hoher dichterischer Anspruch teil-
weise auf den — vergeblichen — Anspruch auf die Verkündigung von „Wahr-
heit". Der erste der Dionysos-Dithyramben: Nur Narr! Nur Dichter! ist auch in
dieser Hinsicht programmatisch. Allerdings hielt N. in Ecce homo im Zusam-
menhang mit seiner Zarathustra-Inspiration an der künstlerisch-sprachlichen
Außerordentlichkeit seiner Dithyramben-Dichtung fest: „— Welche Sprache
wird ein solcher Geist reden, wenn er mit sich allein redet? Die Sprache des
Dithyrambus. Ich bin der Erfinder des Dithyrambus. Man höre, wie Zara-
thustra vor Sonnenaufgang (III, 18) mit sich redet: ein solches smaragde-
nes Glück, eine solche göttliche Zärtlichkeit hatte noch keine Zunge vor mir.
Auch die tiefste Schwermuth eines solchen Dionysos wird noch Dithyrambus"
(EH Za 7, KSA 6, 345, 17-23).
N. kannte die als Sammlung von Fragmenten deklarierte Schrift Herders
Über die neuere deutsche Litteratur. Die erste dieser ,Sammlungen' (1767) ent-
hält ein Kapitel über ,Pindar und die Dithyrambensänger'. Darin geht Herder
auf einen zeitgenössischen Poeten ein, der in pindarisierender Manier Dithy-
ramben schrieb. „Kann man deutsche Dithyramben machen?", so lautet die
kritische Frage (Herder 1877, 1, 308). „Künstlich zu rasen" (ebd., 317), erscheint
ihm absurd, und der Versuch, moderne Dithyramben zu verfassen, als ana-
chronistisch. Trotz seiner historischen Reflexion aber stellt Herder Pindar
immer wieder als Vorbild hin, und trotz der Kluft zwischen den Zeiten wünscht
er sich einen modernen Pindar, weil er das spezifisch Pindarische als Genie-
Dichtung empfindet. Der vermeintlich regellos-elementarische Pindar, wie ihn
Horaz pries, der dionysisch inspirierte Dichter, wie ihn Klopstocks Ode an
meine Freunde feierte, sollte das Paradigma für die gegen die traditionelle nor-
mative Poetik rebellierenden Stürmer und Dränger sein.
N. reflektiert weder den Anachronismus einer modernen Dithyrambendich-
tung noch geht er im Zusammenhang mit dieser Form ,dionysischen' Dichtens
auf Pindar ein. In der Geburt der Tragödie, wo er vom „dionysischen Dithyram-
bus" spricht (vgl. NK KSA 1, 33, 27-31), ist dies bereits aufgrund seines überhis-
torischen, ästhetisierenden Grundansatzes unmöglich, und doppelt unmög-
lich, weil er den griechischen Dithyrambus wie die griechische Tragödie über
die Jahrtausende hinweg mit Wagners als dionysisch begriffener „Musik" und
seinem ,Musikdrama' analogisiert, das er deshalb als „Wiedergeburt der [grie-
chischen] Tragödie" zu begreifen sucht. Dass sich N. in Ecce homo im Zusam-
menhang mit seinen Ausführungen zum Zarathustra als „Erfinder des Dithy-
rambus" bezeichnet (KSA 6, 345, 19), kann trotz obsessiver Originalitäts- und
Singularitätsansprüche — im Vorwort zu EH ruft er abschließend aus: „Ver-
wechselt mich vor Allem nicht" (KSA 6, 257, 17 f.) — natürlich nicht
im historischen Sinn gemeint sein, sondern im Hinblick auf seinen Begriff des
Dithyramben, verschiebt sich N.s genialisch-hoher dichterischer Anspruch teil-
weise auf den — vergeblichen — Anspruch auf die Verkündigung von „Wahr-
heit". Der erste der Dionysos-Dithyramben: Nur Narr! Nur Dichter! ist auch in
dieser Hinsicht programmatisch. Allerdings hielt N. in Ecce homo im Zusam-
menhang mit seiner Zarathustra-Inspiration an der künstlerisch-sprachlichen
Außerordentlichkeit seiner Dithyramben-Dichtung fest: „— Welche Sprache
wird ein solcher Geist reden, wenn er mit sich allein redet? Die Sprache des
Dithyrambus. Ich bin der Erfinder des Dithyrambus. Man höre, wie Zara-
thustra vor Sonnenaufgang (III, 18) mit sich redet: ein solches smaragde-
nes Glück, eine solche göttliche Zärtlichkeit hatte noch keine Zunge vor mir.
Auch die tiefste Schwermuth eines solchen Dionysos wird noch Dithyrambus"
(EH Za 7, KSA 6, 345, 17-23).
N. kannte die als Sammlung von Fragmenten deklarierte Schrift Herders
Über die neuere deutsche Litteratur. Die erste dieser ,Sammlungen' (1767) ent-
hält ein Kapitel über ,Pindar und die Dithyrambensänger'. Darin geht Herder
auf einen zeitgenössischen Poeten ein, der in pindarisierender Manier Dithy-
ramben schrieb. „Kann man deutsche Dithyramben machen?", so lautet die
kritische Frage (Herder 1877, 1, 308). „Künstlich zu rasen" (ebd., 317), erscheint
ihm absurd, und der Versuch, moderne Dithyramben zu verfassen, als ana-
chronistisch. Trotz seiner historischen Reflexion aber stellt Herder Pindar
immer wieder als Vorbild hin, und trotz der Kluft zwischen den Zeiten wünscht
er sich einen modernen Pindar, weil er das spezifisch Pindarische als Genie-
Dichtung empfindet. Der vermeintlich regellos-elementarische Pindar, wie ihn
Horaz pries, der dionysisch inspirierte Dichter, wie ihn Klopstocks Ode an
meine Freunde feierte, sollte das Paradigma für die gegen die traditionelle nor-
mative Poetik rebellierenden Stürmer und Dränger sein.
N. reflektiert weder den Anachronismus einer modernen Dithyrambendich-
tung noch geht er im Zusammenhang mit dieser Form ,dionysischen' Dichtens
auf Pindar ein. In der Geburt der Tragödie, wo er vom „dionysischen Dithyram-
bus" spricht (vgl. NK KSA 1, 33, 27-31), ist dies bereits aufgrund seines überhis-
torischen, ästhetisierenden Grundansatzes unmöglich, und doppelt unmög-
lich, weil er den griechischen Dithyrambus wie die griechische Tragödie über
die Jahrtausende hinweg mit Wagners als dionysisch begriffener „Musik" und
seinem ,Musikdrama' analogisiert, das er deshalb als „Wiedergeburt der [grie-
chischen] Tragödie" zu begreifen sucht. Dass sich N. in Ecce homo im Zusam-
menhang mit seinen Ausführungen zum Zarathustra als „Erfinder des Dithy-
rambus" bezeichnet (KSA 6, 345, 19), kann trotz obsessiver Originalitäts- und
Singularitätsansprüche — im Vorwort zu EH ruft er abschließend aus: „Ver-
wechselt mich vor Allem nicht" (KSA 6, 257, 17 f.) — natürlich nicht
im historischen Sinn gemeint sein, sondern im Hinblick auf seinen Begriff des