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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0674
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Überblickskommentar 651

Philosophie mit ihrem Wahrheitsanspruch, der aus der Ideenschau resultiert,
über die dem Uneigentlichen zugeordneten und insofern nachrangigen
Künste. Im Besonderen wertete er die Dichtung ab. In der Geburt der Tragödie
hatte N. gerade die Herabsetzung von Kunst und Dichtung durch Platon kri-
tisch ins Visier genommen. Dennoch greift er im Dionysos-Dithyrambus Nur
Narr! Nur Dichter! Platons Dichterkritik mit dessen zentralem Kriterium auf:
Wahrheit oder Lüge. Zugleich vertieft er sie durch die bereits in der Früh-
schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn entfaltete skepti-
sche Infragestellung der Wahrheitsfähigkeit von Sprache überhaupt.
Anschließend an Gustav Gerbers Buch Die Sprache als Kunst hatte er gefragt:
„Was ist also Wahrheit?" und sogleich die Antwort beigefügt: „Ein bewegli-
ches Heer von Metaphern, Metonymien [...], die nach langem Gebrauche
einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind
Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind" (WL 1, KSA
1, 880, 30-881, 2). Kurz vorher heißt es: „Wir glauben etwas von den Dingen
selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden
und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen
Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen" (KSA 1, 879, 19-22). Zwar hätte
der späte N. nicht mehr von „ursprünglichen Wesenheiten" der Dinge gespro-
chen, aber die fundamentale Sprachskepsis, die generell gilt und in besonde-
rer Weise den Dichter betrifft, wirkt noch im Dionysos-Dithyrambus Nur Narr!
Nur Dichter! nach. Der Dichter vermag, obwohl „der Wahrheit Freier", nur
„lügnerische[.] Wortbrücken" zu bauen (378, 7). Als einzige und nun para-
doxe Wahrheit bleibt deshalb am Ende die Einsicht, „dass ich verbannt
sei / von aller Wahrheit!" (380, 19 f.) Dass bei N. die angeblich „wahre
Welt" der Philosophie unter dem Generalverdacht steht, bloß der Durchsetzung
von Machtinteressen zu dienen, war seinen Lesern spätestens seit GD Wie die
„wahre Welt" endlich zur Fabel wurde (KSA 6, 80 f.) geläufig.
In dem ringkompositorisch am Ende des Zyklus platzierten und mehrfach
sich auf Zarathustra berufenden Dithyrambus Von der Armuth des Reichsten
folgert N., dass es nur durch den genialen Schaffensprozess verbürgte, und
das heißt auch: nur aus dem individuellen Selbst entspringende Wahrheiten
gebe. Nachdem er alle anderen Wahrheiten verabschiedet hat („Fort, fort, ihr
Wahrheiten, / die ihr düster blickt" — 406, 19 f.), adaptiert er in der für die
späten Texte charakteristischen Größen- und Allmachtsphantasie die Rolle des
biblischen Schöpfergottes, der als „ein Schaffender an seinem siebenten Tag"
(408, 6) auf sein vollendetes Sechstagewerk zurückschaute; und eben daraus
leitet er ab, dass es nur von ihm verkündete Wahrheiten geben könne, die
aus dem Reichtum schöpferischer, geradezu als Inspirationsfülle erfahrener
Energien ihre Legitimation gewinnen:
 
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