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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0676
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Überblickskommentar 653

„in dich selber eingebohrt...
Jetzt —
einsam mit dir,
zwiesam im eignen Wissen,
zwischen hundert Spiegeln
[...]
Was schlichst du dich ein
in dich — in dich?..." (390, 20-391, 6)
Der folgende Dithyrambus Das Feuerzeichen imaginiert als projektive Identität des
sprechenden Ichs Zarathustra, der auf einsamer Höhe seine Feuer anzündet und
damit den aufs offene Meer verschlagenen Schiffern Zeichen gibt — Zeichen aller-
dings, die in immer weitere „Fernen" locken. Das romantische Motiv der Ferne und
der nie zu stillenden Sehnsucht nach immer ferneren Fernen führt aber, gerade
weil es kein Ziel gibt, notwendigerweise immer tiefer in die Einsamkeit:
„Meine Seele selber ist diese Flamme,
unersättlich nach neuen Fernen
[...]
Was floh Zarathustra vor Thier und Menschen?
Was entlief er jäh allem festen Lande?
Sechs Einsamkeiten kennt er schon —,
aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam,
die Insel liess ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme,
nach einer siebenten Einsamkeit
wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt." (393, 13-22)
Nach dieser am Ende noch bis zur paradoxalen Imagination eines „Fischers
auf hohen Bergen" (394, 5) sich steigernden aporetischen Selbstinszenierung,
die N. aus dem Zarathustra übernahm (Za IV Das Honig-Opfer, KSA 4, 297, 28-
32; 298, 27-31), entwirft das folgende Gedicht Die Sonne sinkt eine ganz andere
Daseinsstimmung. Das nahende Ende ahnend, beruhigt sich das Ich im
Wunschbild eines letzten, nun von Glück erfüllten Augenblicks. Es gibt keine
Sehnsucht mehr nach unendlichen Fernen, denn „Wunsch und Hoffen
ertrank" (396, 29). Die Ruhelosigkeit der romantisch ins Unendliche schweifen-
den „Seele" weicht einem abendlich befriedeten Vollendungszustand: „glatt
liegt Seele und Meer" (396, 30). Und diese mit Glück erfüllende Stimmung, in
der das lyrische Ich „des Todes / heimlichste[n] süsseste[n] Vorgenuss" empfin-
det (396, 18 f.), erscheint nun, frei von aller heroischen Daseinsspannung, als
die wunschlos zuteilgewordene „Siebente Einsamkeit" (397, 1).
 
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