658 Dionysos-Dithyramben
Zeitschrift Zeit und Geist (Nr. 16, 1898) sogar so weit zu behaupten, man könne
sich zur Philosophie N.s stellen, wie man wolle, aber „dem Menschen und
Dichter wird kein Gebildeter seine Teilnahme versagen können!" (Kr I, 504)
Diese charakteristische Einschätzung muss noch keineswegs implizieren, dass
man den künstlerischen Wert von N.s Dichtungen besonders hoch veran-
schlagt, aber mit Sicherheit impliziert sie, dass man über die Dichtungen ganz
nah an den Menschen N. herankomme — und dass dieser Mensch „Teilnahme"
verdiene. Dass Lyrik (zumal solche, in der ein lyrisches Ich vermeintliche
Selbstbekenntnisse artikuliert) vorzüglich als Auskunftsmittel über innere
Befindlichkeiten des jeweiligen Verfassers geeignet sei, gehört zu den traditio-
nellen Erwartungen an diese Gattung. Diese Erwartungen bringen es freilich
mit sich, dass man gerade den DD tendentiell einen philosophischen Gehalt
abzusprechen pflegte. Leopold von Schroeder äußert sich in der Baltischen
Monatsschrift (Bd. 46, 1898) dazu unmissverständlich: N. sei zwar „als Philo-
soph nicht ernst zu nehmen" (Kr I, 517), dennoch könnte man versucht sein,
ihn „als Sprachkünstler, als Dichter von gewaltiger Begabung" anzusehen. Die
Gedichte und Sprüche hätten den Rezensenten jedoch auch da eines Besseren
belehrt: „neben einigen [...] Blüthen echten Talents wieviel Häßliches, Uner-
quickliches, Abstoßendes, Frivoles und geradezu Unsinniges!" (Ebd.).
Immerhin haben die Gedichte einem Rezensenten wie Moritz Necker in der
Wiener Wochenschrift Die Wage vom 23. Juli 1898 zu einer völlig entgegenge-
setzten Einschätzung Anlass gegeben: „Unser modernes Deutsch ist ohne ihn
[N.] nicht zu denken [...] er hat die Sprache intimer gemacht, als sie war, und
nicht zufällig oder naiverweise, sondern mit redlichem künstlerischem Bemü-
hen." (Kr I, 512) Ein ähnliches Bild vom Dichter N. prägt bereits der erste Ein-
trag zu N. in Brockhaus' Konversations-Lexilcon, nämlich im 12. Band der
14. Auflage, erschienen 1895 (nicht 1894, wie Kr I, 315 schreibt). Den entspre-
chenden Artikel hatte der frühe N.-Herausgeber Fritz Koegel verfasst; der Ein-
trag war damit das Produkt der gezielten N.-Werbestrategie der frühen 1890er-
Jahre, die in die ,Industrieproduktion' des späteren Weimarer Nietzsche-Archivs
mündete. In Koegels Artikel heißt es, N. sei ein „Stilist, der die deutsche Spra-
che um neue Stilformen und Ausdrucksmöglichkeiten bereichert hat, als Dich-
ter der Schöpfer eines neuen Dithyrambenstils; er verbindet das feinste künst-
lerische Formgefühl mit großer Leidenschaft des Denkens." (Brockhaus 1894-
1896, 12, 363).
In der Rezeptionsgeschichte N.s spielen Urteile über die Größe oder die
Minderwertigkeit seiner Lyrik — insbesondere auch der DD — eine nicht unwe-
sentliche Rolle. Entweder werden die DD als Beleg für die Nähe N.s zum Wahn-
sinn oder als Beleg für sein atemberaubendes kompositorisches Geschick noch
in den letzten bewussten Tagen herangezogen (vgl. Podach 1961, 365). Sie gel-
Zeitschrift Zeit und Geist (Nr. 16, 1898) sogar so weit zu behaupten, man könne
sich zur Philosophie N.s stellen, wie man wolle, aber „dem Menschen und
Dichter wird kein Gebildeter seine Teilnahme versagen können!" (Kr I, 504)
Diese charakteristische Einschätzung muss noch keineswegs implizieren, dass
man den künstlerischen Wert von N.s Dichtungen besonders hoch veran-
schlagt, aber mit Sicherheit impliziert sie, dass man über die Dichtungen ganz
nah an den Menschen N. herankomme — und dass dieser Mensch „Teilnahme"
verdiene. Dass Lyrik (zumal solche, in der ein lyrisches Ich vermeintliche
Selbstbekenntnisse artikuliert) vorzüglich als Auskunftsmittel über innere
Befindlichkeiten des jeweiligen Verfassers geeignet sei, gehört zu den traditio-
nellen Erwartungen an diese Gattung. Diese Erwartungen bringen es freilich
mit sich, dass man gerade den DD tendentiell einen philosophischen Gehalt
abzusprechen pflegte. Leopold von Schroeder äußert sich in der Baltischen
Monatsschrift (Bd. 46, 1898) dazu unmissverständlich: N. sei zwar „als Philo-
soph nicht ernst zu nehmen" (Kr I, 517), dennoch könnte man versucht sein,
ihn „als Sprachkünstler, als Dichter von gewaltiger Begabung" anzusehen. Die
Gedichte und Sprüche hätten den Rezensenten jedoch auch da eines Besseren
belehrt: „neben einigen [...] Blüthen echten Talents wieviel Häßliches, Uner-
quickliches, Abstoßendes, Frivoles und geradezu Unsinniges!" (Ebd.).
Immerhin haben die Gedichte einem Rezensenten wie Moritz Necker in der
Wiener Wochenschrift Die Wage vom 23. Juli 1898 zu einer völlig entgegenge-
setzten Einschätzung Anlass gegeben: „Unser modernes Deutsch ist ohne ihn
[N.] nicht zu denken [...] er hat die Sprache intimer gemacht, als sie war, und
nicht zufällig oder naiverweise, sondern mit redlichem künstlerischem Bemü-
hen." (Kr I, 512) Ein ähnliches Bild vom Dichter N. prägt bereits der erste Ein-
trag zu N. in Brockhaus' Konversations-Lexilcon, nämlich im 12. Band der
14. Auflage, erschienen 1895 (nicht 1894, wie Kr I, 315 schreibt). Den entspre-
chenden Artikel hatte der frühe N.-Herausgeber Fritz Koegel verfasst; der Ein-
trag war damit das Produkt der gezielten N.-Werbestrategie der frühen 1890er-
Jahre, die in die ,Industrieproduktion' des späteren Weimarer Nietzsche-Archivs
mündete. In Koegels Artikel heißt es, N. sei ein „Stilist, der die deutsche Spra-
che um neue Stilformen und Ausdrucksmöglichkeiten bereichert hat, als Dich-
ter der Schöpfer eines neuen Dithyrambenstils; er verbindet das feinste künst-
lerische Formgefühl mit großer Leidenschaft des Denkens." (Brockhaus 1894-
1896, 12, 363).
In der Rezeptionsgeschichte N.s spielen Urteile über die Größe oder die
Minderwertigkeit seiner Lyrik — insbesondere auch der DD — eine nicht unwe-
sentliche Rolle. Entweder werden die DD als Beleg für die Nähe N.s zum Wahn-
sinn oder als Beleg für sein atemberaubendes kompositorisches Geschick noch
in den letzten bewussten Tagen herangezogen (vgl. Podach 1961, 365). Sie gel-