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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0688
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Stellenkommentar DD Nur Narr, KSA 6, S. 378-379 665

Wahnsinn" hingegeben hat und es paradoxerweise nur „Eine[.] Wahrheit" gebe
(380, 15), nämlich dass es „verbannt sei / von aller Wahrheit" (380,
19 f.).
379, 7-10 Dann, / plötzlich, / geraden Flugs / gezückten Zugs] Diese Wendung
des „gezückten Zugs" hinabstürzenden Adlers hat ein Vorbild in N.s früherem
Gedicht Vogel Albatross: „Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?" (Idyllen
aus Messina, KSA 3, 341, 23 und FW Lieder des Prinzen Vogelfrei, KSA 3, 644,
18).
379, 11-17 auf Lämmer stossen, / jach hinab, heisshungrig, / nach Lämmern
lüstern, / gram allen Lamms-Seelen, / grimmig gram Allem, was blickt / tugend-
haft, schafmässig, krauswollig, / dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen] Zara-
thustra sagt in Za III Vom Geist der Schwere von sich selbst: „Mein Magen —
ist wohl eines Adlers Magen? Denn er liebt am liebsten Lammfleisch." (KSA 4,
241, 12 f., vgl. ZA IV Das Abendmahl, KSA 4, 354, 8-10) In JGB 201 skizziert N.
die Geschichte der abendländischen Moral. Dabei beschreibt er, wie „unter
sehr friedfertigen Zuständen" (KSA 5, 123, 9) die Nötigung zu einer harten
Selbsterziehung entfalle, so dass Strenge, eine „hohe und harte Vornehmheit
und Selbst-Verantwortlichkeit" (ebd, 12 f.) verdächtig würden — stattdessen
aber gewinne „,das Lamm', noch mehr ,das Schaf' [...] an Achtung" (ebd., 14 f.).
Die Lämmer und Schafe (vgl. NK 379, 24) werden in ihrer Harmlosigkeit zu den
Idealbildern menschlichen Verhaltens; die Menschen werden nach N.s Dia-
gnose zu Herdentieren domestiziert (vgl. z. B. NK KSA 6, 99, 5-8). Und die
selbsternannten Hirten, die Priester, verstehen es, ihre Herde beisammen zu
halten, indem sie ihr das schlechte Gewissen implementieren: „,lch leide:
daran muss irgend Jemand schuld sein' — also denkt jedes krankhafte Schaf.
Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm: ,Recht so, mein Schaf!
irgend wer muss daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du
selbst bist daran allein schuld, — du selbst bist an dir allein
schuld!'" (GM III 15, KSA 5, 375, 8-13) Die starken Individuen, die vor dem
angeblichen Sklavenaufstand in der Moral nach N. die Herrschenden gewesen
sein sollen, stellt er in GM I 13 als „Raubvögel" vor, die sich von „Lämmern"
ernähren: „Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befrem-
det nicht: nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen,
dass sie sich kleine Lämmer holen." (GM I 13, KSA 5, 278, 31-279, 1) Gegen
diese Raubvögel erfinden die Lämmer dann das moralische Urteil „böse", das
schließlich zur Waffe in einem Umsturz der moralischen Wertungsweisen
wird — zuungunsten der Starken, nun als böse Geächteten. In DD Nur Narr!
Nur Dichter! liebäugelt das lyrische Ich mit der Raubvogel-Rolle, wobei wohl
kein so brachiales Verspeisen der Lämmer mehr gemeint ist wie in der Frühzeit
 
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