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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0690
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Stellenkommentar DD Wüste, KSA 6, S. 379-380 667

dicht Hegire, in dessen erster Strophe es programmatisch heißt: „Flüchte du,
im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten" (V. 3 f. — N.s Echo: „wie Einer,
der in neuen Ländern eine neue Luft kostet", 382, 20 f.). Sowohl in der Prosa-
Partie wie in dem Nachtisch-Lied spielt N. immer wieder auf Goethes Hegire
wie überhaupt auf den Divan an (der immerhin demselben Land wie Zara-
thustra angehört), so wenn er bemerkt, dass er zu den Morgenland-Mädchen
wolle, die „ohne Gedanken" dasitzen, und bei denen es nur „blauen Himmel"
und „keine Gedanken" gebe. Goethes Hegire: „Unter Lieben, Trinken, Singen, /
Soll dich Chisers Quell verjüngen", dort, wo „sie sich nicht den Kopf zerbra-
chen" (V. 12). Und wie Goethe „an Oasen" sich erfrischen möchte und auch
den Weg durch die „Wüste" nicht scheut (V. 24), so gibt sich N.s Wanderer, der
sich Zarathustras Schatten nennt, der Imagination „von dieser kleinsten Oasis"
in der „Wüste" hin (383, 14). Nicht zuletzt weist der Name „Suleika" (384, 21)
auf das Buch Suleika im West-östlichen Divan. Wenn demnach N.s Wanderer
die „Harfe des alten Zauberers" ergreift, um sein Nachtisch-Lied zu singen, so
erinnert der alte Zauberer zum einen an Goethe. Doch weil dessen dichterische
Welt der Vergangenheit angehört, ist es „ein altes Nachtisch-Lied", das der
Wanderer „einst" dichtete (382, 2 f.), und als bloßes „Nachtisch"-Lied ist es
epigonal. Da es aber dies samt dem von Goethe beförderten Orientalismus (und
Eskapismus) reflektiert, vermag es der Wanderer zur Harfe des alten Zauberers
nur noch in grotesk verfremdeter Form zu singen. In dieser Verfremdung, in
der sich das nicht zu unterdrückende moderne Bewusstsein verrät, gerät das
„Lied" zur bewusst grotesk inszenierten Goethe-Parodie. Der inspirierenden
und kulturell erfrischenden poetischen Orient-Expedition des alten Zauberers
antwortet das deformierte „Gebrüll" (382, 22) des Wanderers, der seiner Not
nicht zu entrinnen vermag; wo der alte Zauberer ein neues Heil für sich ent-
deckte, wird sein Nachfahr mit einem Wehe-Ruf der eigenen Heillosigkeit inne,
so dass die „Wüste" zur Metapher des Nihilismus wird: „Die Wüste
wächst: weh dem, der Wüsten birgt..." (382, 24).
Zum anderen und noch deutlicher erinnert der „alte Zauberer" an Wagner;
in WA 3, KSA 6, 16, 18 und WA Nachschrift, KSA 6, 43, 30 bezeichnet N. Wagner
direkt als „alten Zauberer" (vgl. auch NK 377, 3-10). In Za IV Der Zauberer 2
wird der Zauberer mit den für N.s Wagner-Kritik typischen Attributen, etwa als
„Schauspieler aus dem Grunde" angesprochen (KSA 4, 317, 26). Während in DD
Unter Töchtern der Wüste direkt (mitsamt dem Übergang in Prosa) an Nur Narr!
Nur Dichter! anschließt, war in Za noch das Kapitel „Von der Wissenschaft"
zwischengeschaltet, welches auf jenen, in DD „Nur Narr! Nur Dichter!" betitel-
ten Dithyrambus Bezug nimmt: „Also sang der Zauberer; und Alle, die beisam-
men waren, giengen gleich Vögeln unvermerkt in das Netz seiner listigen und
schwermüthigen Wollust. Nur der Gewissenhafte des Geistes war nicht einge-
 
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