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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0708
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Stellenkommentar DD Ariadne, KSA 6, S. 397-398 685

wirkungsmächtigen Bacchus-Gedicht Carmina II, 19 an. Die Klage der Ariadne
(daher N.s Titel) um Theseus fand die ersten ihrer zahlreichen dichterischen
Gestaltungen in Catulls 64. Gedicht und im 10. Brief von Ovids Heroides. Bei
den römischen Dichtern gehörte die Liebesgeschichte von Dionysos und Ari-
adne zum Repertoire; am eindrücklichsten gestaltete sie Ovid in seiner Liebes-
kunst (Ars amatoria I, 525-562). Häufig stellte die römische Wandmalerei die
Szene dar, wie Dionysos die schlafende Ariadne auf Naxos findet.
N. übernimmt mehrere Elemente des Mythos, so die schon im Titel ste-
hende Klage der Ariadne, die plötzliche Erscheinung des Dionysos am Ende
(„Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar", 401, 19); er
spielt in der letzten Zeile auf das Labyrinth des Minotauros an („Ich bin
dein Labyrinth", 401, 25), ferner auf die von Dionysos auf Naxos im Schlaf
überraschte Ariadne, wobei N. die Eifersucht auf Theseus andeutet, an dem
Ariadnes Herz noch hängt, und den Dionysos daraus verdrängen will (399, 10-
19: „Du schleichst heran / bei solcher Mitternacht?... / Was willst du? / Sprich! /
Du drängst mich, drückst mich, / Ha! schon viel zu nahe! / Du hörst mich
athmen, / du behorchst mein Herz, / du Eifersüchtiger! / — worauf doch eifer-
süchtig?"). Auch an die Verlassenheit Ariadnes auf Naxos, nachdem Theseus
davongefahren ist, an ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe erinnern die
Verse (400, 24-28). N. bedient sich dieser Elemente des Mythos, um daraus
eine Allegorese seiner ganz anderen Konzeption zu gewinnen, vgl. auch zur
wiederholten Evokation der „Zwiegespräche auf Naxos" NK KSA 6, 123, 30-124,
3. Auf einem der sogenannten Wahnsinnszettel schrieb er am 03. 01. 1889 an
Cosima Wagner: „Ariadne, ich liebe Dich. Dionysos" (fehlt in KSB 8, ediert in
KGB III 7/3, 1, Nr. 1241a, S. 8). Ein Brief an Cosima vom gleichen Tag, in dem
sich N. „als der siegreiche Dionysos" ankündigt, ist „An die Prinzeß Ariadne,
meine Geliebte" adressiert (KSB 8, Nr. 1241, S. 572 f.). Doch hat der Text Klage
der Ariadne eine viel weitere Dimension, denn Ariadne gehört zu den Projekti-
onsfiguren des in den Dionysos-Dithyramben immer wieder über seine Einsam-
keit, seine Martern und Qualen klagenden Ichs. Deshalb nimmt N. auch wieder
die Jagd-Metaphorik auf, nun in masochistisch intensivierter Form. Die
Anklänge an den Dithyrambus Zwischen Raubvögeln sind deutlich. Dort ruft
das sich mit Zarathustra identifizierende lyrische Ich aus: „Oh Zarathustra, /
grausamster Nimrod! / Jüngst Jäger noch Gottes [...] Jetzt — / von dir selber
erjagt, / deine eigene Beute, / in dich selber eingebohrt" (390, 12-20). In der
Klage der Ariadne heißt es entsprechend: „Du Jäger hinter Wolken! [...] So liege
ich, / biege mich, winde mich, gequält / von allen ewigen Martern, / getroffen /
von dir, grausamster Jäger" (398, 11-18). Und wie das Ich sich im Dithyrambus
Zwischen Raubvögeln zweimal als „Selbsthenker" bezeichnet (390, 32; 392,
18), so erscheint in der Klage der Ariadne Dionysos zweimal als „Henker-Gott"
(399, 31; 401, 8).
 
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