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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0720
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Stellenkommentar DD Armut, KSA 6, S. 406-407 697

407, 5-12 Heut strecke ich die Hand aus / nach den Locken des Zufalls, / klug
genug, den Zufall / einem Kinde gleich zu führen, zu überlisten. / Heut will ich
gastfreundlich sein / gegen Unwillkommnes, / gegen das Schicksal selbst will ich
nicht stachlicht sein / — Zarathustra ist kein Igel.] KSA 14, 517 teilt dazu folgende
Vorstufe mit: „strecke die Hand nach kleinen Zufällen, / sei lieblich gegen das
Unwillkommene: / Gegen sein Schicksal soll man nicht stachlicht sein, / man
sei denn ein Igel."
Zur Igel-Metaphorik, die an Schopenhauers Stachelschwein-Parabel erin-
nert, siehe NK KSA 6, 292, 23-26.
407, 5 f. Heut strecke ich die Hand aus / nach den Locken des Zufalls] In N.s
letzten Briefen fällt eine Dämonisierung des „Zufalls" auf, die sich mit der
Vorstellung des Schicksalhaften und der Auserwählung verbindet. An Over-
beck schrieb er am 22. 12. 1888: „fast jeder Brief, den ich jetzt schreibe, beginnt
mit dem Satz, daß es keinen Zufall mehr in meinem Leben giebt" (KSB 8,
Nr. 1209, S. 547, Z. 8-10). Das „Heut" signalisiert den Moment einer erfüllenden
Erfahrung, die als „Zufall" — als das ,Zufallende' — und insofern als Geschenk
des günstigen Augenblicks empfunden wird. Zugleich wirkt die ikonographisch
fixierte Vorstellung des „zur rechten Zeit" (Kaipöc;) Ergriffenen herein, denn
der Koupog wird schon in der Antike als davoneilender Jüngling personifiziert,
der auf der vorderen Seite des Kopfes „Locken" hat, während der Hinterkopf
kahl ist, so dass derjenige, der zur „rechten Zeit" kommt, ihn noch an den
Locken zu fassen vermag, während derjenige, der zu spät kommt, ins Leere
greift, da er mit der Hand am kahlen Hinterkopf des Davoneilenden abgleitet.
Zu der Verbindung von „Zufall" und „Schicksal" (407, 11) vgl. NL 1884, KSA 11,
27[71], 292, 18-20: „Zarathustra 2. Höchster Fatalismus doch identisch mit dem
Zufalle und dem Schöpferischen. (Keine Werthordnung in den Dingen!
sondern erst zu schaffen.)" Vgl. NK KSA 6, 269, 23 f.
407, 17-20 Aber immer gleich dem Korke, / immer schwimmt sie wieder oben-
auf, / sie gaukelt wie Öl über braune Meere: / dieser Seele halber heisst man
mich den Glücklichen.] KSA 14, 517 teilt dazu die folgende Vorstufe mit: „du bist
wie der Kork, / gemacht für das Licht / du gaukelst auf der Oberfläche aller
Meere: / man heißt dich einen Glücklichen".
407, 21-23 Wer sind mir Vater und Mutter? / Ist nicht mir Vater Prinz Über-
fluss / und Mutter das stille Lachen?] In einer Vorstufe heißt es stattdessen:
„ist's nicht das grause Schicksal / und das liebliche Lachen?"; „das stille
Lachen?" wurde korrigiert aus „das liebliche Lachen?" und dies wiederum aus
„das Lachen, das Liebliche" (KSA 14, 517 f.).
 
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