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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0733
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710 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen

u. Campioni 1994) und krank mache. Mit „Chaos an Stelle des Rhythmus"
werfe Wagner „die physiologische Voraussetzung der bisherigen Musik um"
(NW Wagner als Gefahr 1, KSA 6, 422, 20 f. u. 10 f.). Er ziele nur auf Massenwir-
kung. Der Abschnitt „Wir Antipoden", der das Leiden „an der Überfülle des
Lebens" vom Leiden „an der Verarmung des Lebens" (KSA 6, 425, 19-22)
unterscheidet und letzteres Wagner (sowie Schopenhauer) zuschreibt, während
das sprechende Ich ersteres für sich reklamiert, zehrt vom Gegensatz zwischen
Lebensbejahung und Lebensverneinung. Wagner erscheint als Repräsentant
einer gesamteuropäischen decadence-Bewegung, in die sich insbesondere die
Keuschheitsideologie des Parsifal nahtlos einfügt. Als „Psycholog" ergreift N.
gegen das Mitleid Partei und im Epilog für den „Amor fati" (NW Epilog 1,
KSA 6, 436, 18), im Abschlussgedicht (KSA 6, 441-445) schließlich für die
Tugend des Selbstverschenkens.
Indes ließe sich das Collage-Verfahren von NW auch als eine typische deca-
dence-Kunst verstehen, die eben nur noch auf Versatzstücke zurückgreift. Derar-
tige Überlegungen finden sich etwa in einer „Unter Musikern" betitelten
Notiz NL 1888, KSA 13, 14[55], 244 (korrigiert nach KGW IX 8, W II 5, 154, 1-6, im
Folgenden in der von N. korrigierten Fassung ohne durchgestrichene Passagen
wiedergegeben): „Wir sind späte Musiker. Eine ungeheure Vergangenheit ist in
uns vererbt. Unser Gedächtniß citirt beständig. Wir dürfen unter uns auf eine fast
gelehrte Weise anspielen: wir versteht [sic] uns schon. Auch unsere Zuhörer lie-
ben es, daß wir anspielen: es schmeichelt ihnen, sie fühlen sich dabei gelehrt."
(Vgl. dazu Horn 2000,357.) N. würde nach einer solchen Lesart in NW bewusst ein
dekadentes Kompositionsprinzip wählen, um decadence zu veranschaulichen.
Freilich läge die Pointe darin, dass die Zitate eben nicht aus anderer Quelle
stammten, deren sich dann der minder Fruchtbare bedient, sondern dass die
Quelle und der Epigone ein und derselbe sind, N. mit seinem Werk also nur ein
scheinbarer decadent. NW ließe sich so verstehen als eine Adäquation an die
Erwartungen eines dekadenten Publikums, dem man mit ihm entsprechenden
künstlerischen Mitteln Rede und Antwort steht.
Auffällig ist der Gestus der Selbstrechtfertigung, der in NW ebenso wie in
Ecce homo trotz aller Selbstüberhebung zumindest den Anlass für das jeweilige
literarische Unternehmen gibt. Offenbar muss sich selbst noch ein Umwerter
für das, was er tut, rechtfertigen — auch wenn er in NW zu zeigen bestrebt ist,
dass er (fast) immer schon etwas anderes getan habe, als das Publikum es ihm
zuschreibt, im gegebenen Fall Wagner seit langer Zeit kritisiert.

5 Stellenwert von Nietzsche contra Wagner in N.s Schaffen
Die kleine Schrift Nietzsche contra Wagner wird nicht zu N.s Hauptwerken
gezählt. Es ist mit wenigen Ausnahmen — z. B. Salaquarda 1995 — wenig über
 
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