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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0734
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Überblickskommentar 711

sie geforscht worden. NW gilt als ein rasch zusammengestoppeltes Kompilat
verschiedener Textpassagen aus N.s früheren Schriften, einzig zu dem Zweck,
aufzuweisen, dass sich der Philosoph nicht erst mit Der Fall Wagner von sei-
nem einstigen geistigen Übervater Wagner abgewandt, sondern dass die Dis-
tanzierung schon viel früher eingesetzt habe. Doch wird die Schrift wohl unter-
schätzt. NW reiht sich ein in N.s Versuche, die eigene Biographie — siehe EH —
einer radikalen Teleologisierung zu unterwerfen und überall auf dem eigenen
Denkweg weltgeschichtliche Notwendigkeit am Werk zu sehen. Die Collage-
Technik kann zugleich als eine weitere Erscheinungsform der im Spätwerk
virulenten Neigung zur Selbstinterpretation und -kommentierung verstanden
werden: „Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, der ich jetzt
zum ersten Male mich gewachsen fühle" (N. an Köselitz, 09. 12 1888,
KSB 8, Nr. 1181, S. 515, Z. 69-71). Wagner ist in NW nur noch ein Vehikel, ex
negativo die Unerlässlichkeit einer völligen Erneuerung menschlicher Wer-
tungsweisen herauszustellen. Der in NW dokumentierte, lange Kampf gegen
Wagner hat nach N.s eigenem Dafürhalten tragischen Charakter (vgl. N. an
Naumann, 15. 12. 1888, KSB 8, Nr. 1191, S. 525). Die Umwertung aller Werte wird
hier an einem konkreten Gegenwartsphänomen, eben Wagner, erprobt — und
den Lesern zugleich suggeriert, diese Umwertung sei immer schon N.s Projekt
gewesen.

6 Zur Wirkungsgeschichte
1889 wurde NW nur in kleinster Auflage für den privaten Gebrauch gedruckt;
entsprechend gab es keine Rezensionen. Als das Werk dann Ende 1894 (mit
Erscheinungsjahr 1895) erschien, geschah dies im Rahmen der Werk-Ausgabe,
und zwar in jenem 8. Band, der auch die Gedichte und den Antichrist in erster
Auflage enthielt. Die Rezensenten dieses Bandes, beispielsweise Henri Albert
(Kr I 319), Josef Viktor Widmann und Hermann Bahr (Kr I 333) oder Christoph
Schrempf (Kr I 346 f.), Richard M. Meyer (Kr I 355) und Max Zerbst (Kr I 355 f.),
widmeten ihre Aufmerksamkeit zur Hauptsache dem Antichrist, so dass die
zweite Polemik gegen Wagner aus dem Jahr 1888 nach der starken Aufmerk-
samkeit, die damals Der Fall Wagner erregt hatte, nur wenig beachtet wurde.
Mitte der 1890er Jahre war das Interesse an N. allgemein bereits so stark ange-
wachsen, dass die 1888 noch als skandalös empfundene Abrechnung mit Wag-
ner (eben im Fall Wagner) in der Fassung von NW keine Schockreaktionen
mehr auszulösen vermochte. Solche Schockreaktionen provozierte 1895 nur
Der Antichrist. In der Rezeption wurde NW fortan meist als Appendix zum Fall
Wagner gelesen und mit diesem in einem Atemzug genannt (z. B. bei Gallwitz
 
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