716 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen
lauter ausgesuchte Intelligenzen, bewährte, in hohen Stellungen und
Pflichten erzogene Charaktere; ich habe sogar wirkliche Genies unter meinen
Lesern. In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und
New-York — überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in Europa's Flachland
Deutschland..." Während in NW Vorwort die Bestandsaufnahme der Leser-
schaft als Hauptsatz formuliert wird, ist sie in EH als Nebensatz der Aussage
untergeordnet, dass „dies für Deutsche gesagt" sei. Das syntaktische Augen-
merk liegt in NW auf der vermeintlichen Tatsache, dass N. seine Leser „über-
all" hat, während diese Aussage im Satzgefüge von EH hypotaktisch unterge-
ordnet bleibt, um stattdessen die Ansprache an die deutschen Nicht-Leser
stärker hervortreten zu lassen. Auch das Possessivpronomen „meine" in der
Formulierung aus NW und der Satzbeginn in der Ich-Perspektive subjektivieren
die Aussage stärker als in EH. Dort beginnt die entsprechende Passage mit der
Ankündigung: „Dies war für Deutsche gesagt" (301, 11). Sie fällt in NW weg
und wird durch die Formulierung ersetzt: „dass dies ein Essai für Psychologen
ist, aber nicht für Deutsche..." (415, 8-9). Die Tempusverschiebung vom
Imperfekt in EH zum Präsens in NW zeigt nicht nur eine strukturale Vereinfa-
chung der Syntax an, sondern markiert auch eine semantische Abweichung.
Was in EH noch „für Deutsche gesagt" war, ist in NW nur noch ein „Essai für
Psychologen" und eben nicht mehr „für Deutsche gesagt". Damit greift N. den
Untertitel von NW auf. Da es sich demnach um „Aktenstücke eines Psycholo-
gen" für ein wiederum psychologisch interessiertes Lesepublikum handelt,
redet hier der Psychologe zu Psychologen. Im „Essai für Psychologen" wendet
sich N. an einen gleichgesinnten Adressatenkreis, der den Auserwähltheitscha-
rakter der späten Überlegungen zum ,idealen Leser' belegt. In 415, 11 („ich
habe sie nicht in Europa's Flachland Deutschland") wird die passivische For-
mulierung aus 301, 16 f. („überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in
Europa's Flachland Deutschland") durch eine aktivische ersetzt. In NW bezieht
sich das Prädikat „habe" auf die Leser als Objekte, in EH betont das Verb
„entdecken" durch die Verwendung des Passiv einen qualitativen Aspekt dieser
Leserschaft, die sich überdies als Subjekte einer Entdeckung hervorgetan zu
haben scheinen: Sie haben N. entdeckt. Vgl. zu N.s Lesern an den in 415, 9 f.
genannten Orten im einzelnen NK KSA 6, 301, 14-17, zu Deutschland als Euro-
pas Flachland NK KSA 6, 105, 27-30.
415, 11-15 Und ich hätte vielleicht auch den Herrn Italiänern ein Wort ins Ohr
zu sagen, die ich liebe, ebensosehr als ich... Quousque tandem, Crispi... Triple
alliance: mit dem „Reich" macht ein intelligentes Volk immer nur eine mesalli-
ance...] Die durch den exzessiven Gebrauch von Fortsetzungspunkten auch in
der Typographie sichtbare syntaktische Unvollständigkeit dieses letzten Vor-
wort-Passus suggeriert Nähe zur mündlich gesprochenen Sprache, die nicht an
lauter ausgesuchte Intelligenzen, bewährte, in hohen Stellungen und
Pflichten erzogene Charaktere; ich habe sogar wirkliche Genies unter meinen
Lesern. In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und
New-York — überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in Europa's Flachland
Deutschland..." Während in NW Vorwort die Bestandsaufnahme der Leser-
schaft als Hauptsatz formuliert wird, ist sie in EH als Nebensatz der Aussage
untergeordnet, dass „dies für Deutsche gesagt" sei. Das syntaktische Augen-
merk liegt in NW auf der vermeintlichen Tatsache, dass N. seine Leser „über-
all" hat, während diese Aussage im Satzgefüge von EH hypotaktisch unterge-
ordnet bleibt, um stattdessen die Ansprache an die deutschen Nicht-Leser
stärker hervortreten zu lassen. Auch das Possessivpronomen „meine" in der
Formulierung aus NW und der Satzbeginn in der Ich-Perspektive subjektivieren
die Aussage stärker als in EH. Dort beginnt die entsprechende Passage mit der
Ankündigung: „Dies war für Deutsche gesagt" (301, 11). Sie fällt in NW weg
und wird durch die Formulierung ersetzt: „dass dies ein Essai für Psychologen
ist, aber nicht für Deutsche..." (415, 8-9). Die Tempusverschiebung vom
Imperfekt in EH zum Präsens in NW zeigt nicht nur eine strukturale Vereinfa-
chung der Syntax an, sondern markiert auch eine semantische Abweichung.
Was in EH noch „für Deutsche gesagt" war, ist in NW nur noch ein „Essai für
Psychologen" und eben nicht mehr „für Deutsche gesagt". Damit greift N. den
Untertitel von NW auf. Da es sich demnach um „Aktenstücke eines Psycholo-
gen" für ein wiederum psychologisch interessiertes Lesepublikum handelt,
redet hier der Psychologe zu Psychologen. Im „Essai für Psychologen" wendet
sich N. an einen gleichgesinnten Adressatenkreis, der den Auserwähltheitscha-
rakter der späten Überlegungen zum ,idealen Leser' belegt. In 415, 11 („ich
habe sie nicht in Europa's Flachland Deutschland") wird die passivische For-
mulierung aus 301, 16 f. („überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in
Europa's Flachland Deutschland") durch eine aktivische ersetzt. In NW bezieht
sich das Prädikat „habe" auf die Leser als Objekte, in EH betont das Verb
„entdecken" durch die Verwendung des Passiv einen qualitativen Aspekt dieser
Leserschaft, die sich überdies als Subjekte einer Entdeckung hervorgetan zu
haben scheinen: Sie haben N. entdeckt. Vgl. zu N.s Lesern an den in 415, 9 f.
genannten Orten im einzelnen NK KSA 6, 301, 14-17, zu Deutschland als Euro-
pas Flachland NK KSA 6, 105, 27-30.
415, 11-15 Und ich hätte vielleicht auch den Herrn Italiänern ein Wort ins Ohr
zu sagen, die ich liebe, ebensosehr als ich... Quousque tandem, Crispi... Triple
alliance: mit dem „Reich" macht ein intelligentes Volk immer nur eine mesalli-
ance...] Die durch den exzessiven Gebrauch von Fortsetzungspunkten auch in
der Typographie sichtbare syntaktische Unvollständigkeit dieses letzten Vor-
wort-Passus suggeriert Nähe zur mündlich gesprochenen Sprache, die nicht an