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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0740
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Stellenkommentar NW Vorwort, KSA 6, S. 415 717

einer korrekten Schließung des jeweiligen Satzes interessiert ist. Durch syntak-
tische Unvollständigkeit entsteht der Eindruck gedanklicher Unvollständig-
keit — eine Unvollständigkeit, die zu schließen offenbar dem berufenen, eben
psychologisch geschulten Leser aufgetragen wird. Man kann 415, 11-15 als Hin-
weis auf den heterogenen Charakter der gesamten Schrift lesen. Durch die
üppige Streuung der Fortsetzungspunkte scheint sich der Gedankengang über
die Satzgrenzen hinweg, ja sogar über das Vorwort selbst hinaus fortsetzen zu
wollen. Versucht man die syntaktische Unvollständigkeit gedanklich zu über-
brücken, so wird man zunächst den nachgeschobenen Relativsatz „die ich
liebe" (415, 13) auf die „Herrn Italiäner" (415, 12) beziehen und das nachge-
schobene „ebensosehr als ich..." (415, 13) angesichts des im Vorwort davor
Gesagten beispielsweise wie folgt ergänzen: ,ebensosehr als ich die Deutschen
hasse' oder ,verachte'. Eingeschoben wird dann die direkte Anrede an den
italienischen Ministerpräsidenten Francesco Crispi (1819-1901), mit ebenfalls
syntaktisch verkürztem Beginn von Ciceros erster Rede gegen den des Umstur-
zes angeklagten Catilina, wo es heißt: „Quousque tandem abutere, Catilina,
patientia nostra?" („Wie lange noch, Catilina, wirst du unsere Geduld miss-
brauchen?" Marcus Tullius Cicero: In Catilinam I, 1; N. hatte den Anfang von
Ciceros Rede schon einmal in MA II WS 291, KSA 2, 683, 24 f. zitiert, und zwar
dort, um den Zusammenhang von Diplomatenmägen und Völkerschicksalen
zu glossieren.) Eine Pointe besteht in der Doppeldeutigkeit von „Crispi", womit
nicht nur der italienische Ministerpräsident dieses Namens angesprochen sein
kann, sondern die „Krausen" oder „Kraushaarigen" (also die Italiener), bedeu-
tet doch das lateinische Adjektiv crispus „kraus" oder „kraushaarig" (crispi ist
dazu der Maskulin Plural). Überdies trug auch noch derjenige, dem wir die
berühmteste historische Darstellung der Verschwörung des Catilina verdanken,
nämlich Sallust, den Beinamen Crispus.
Francesco Crispi, altgedienter Freiheitskämpfer, später Abgeordneter der
Linken und Minister, war 1887 italienischer Ministerpräsident geworden und
betrieb eine dezidiert deutschlandfreundliche Außenpolitik, die N. offensicht-
lich missfiel und ihn mit dem Verräter Catilina auf eine Stufe stellen lässt
(vgl. auch NK KSA 6, 148, 10-14). Der nachgeordnete Satz konkretisiert Crispis
Deutschlandfreundlichkeit dann noch einmal, indem er kalauernd die Triple
alliance als „mesalliance", also als eine Missheirat oder eine unglückliche,
nicht standesgemäße Verbindung verunglimpft, die ein „intelligentes Volk" mit
dem Deutschen Reich notwendig machen müsse. Ähnlich heißt es in einem
Briefentwurf von Ende Dezember an Jean Bourdeau, worin N. seine „Proklama-
tion" gegen die Hohenzollern dem Journal des Debats anbietet: „Triple alli-
ance — aber das ist ja nur eine Höflichkeit für mesalliance..." (enthalten im
Brief an Köselitz, 30. 12. 1888, KSB 8, Nr. 1227, S. 567, Z. 57-59). Mit 415, 11-15
 
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