754 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen
Artist, mit dem Instinkt-Urtheil aus dem Grunde: „Flaubert est toujours hai'ss -
able, l'homme n'est rien, l'oeuvre est tout"... Er torturirte sich, wenn er
dichtete, ganz wie Pascal sich torturirte, wenn er dachte — sie empfanden beide
unegoistisch... „Selbstlosigkeit" — das decadence-Princip, der Wille zum Ende in
der Kunst sowohl wie in der Moral. —] Vgl. FW 370, KSA 3, 621, 16-622, 26: „In
Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunter-
scheidung: ich frage, in jedem einzelnen Falle, ,ist hier der Hunger oder der
Ueberfluss schöpferisch geworden?' Von vornherein möchte sich eine andre
Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen — sie ist bei weitem augen-
scheinlicher — nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starr-
machen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist, oder aber das
Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach
Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn,
noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und
mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zer-
störung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunfts-
schwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort
,dionysisch'), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden,
Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das
Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt — man sehe
sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der
Wille zum Verewigen bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er
kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen: — eine Kunst dieses
Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht
mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen
homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er kann aber
auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten
sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkra-
sie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte
und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein
Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist
der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es
als Schopenhauer'sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner'sche Musik: —
der romantische Pessimismus, das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unsrer
Cultur. (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben könne, einen
klassischen — diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von
mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass meinen Ohren das Wort
,klassisch' widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkennt-
lich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft — denn er kommt!
ich sehe ihn kommen! — den dionysischen Pessimismus.)"
Artist, mit dem Instinkt-Urtheil aus dem Grunde: „Flaubert est toujours hai'ss -
able, l'homme n'est rien, l'oeuvre est tout"... Er torturirte sich, wenn er
dichtete, ganz wie Pascal sich torturirte, wenn er dachte — sie empfanden beide
unegoistisch... „Selbstlosigkeit" — das decadence-Princip, der Wille zum Ende in
der Kunst sowohl wie in der Moral. —] Vgl. FW 370, KSA 3, 621, 16-622, 26: „In
Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunter-
scheidung: ich frage, in jedem einzelnen Falle, ,ist hier der Hunger oder der
Ueberfluss schöpferisch geworden?' Von vornherein möchte sich eine andre
Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen — sie ist bei weitem augen-
scheinlicher — nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starr-
machen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist, oder aber das
Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach
Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn,
noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und
mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zer-
störung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunfts-
schwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort
,dionysisch'), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden,
Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das
Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt — man sehe
sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der
Wille zum Verewigen bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er
kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen: — eine Kunst dieses
Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht
mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen
homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er kann aber
auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten
sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkra-
sie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte
und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein
Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist
der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es
als Schopenhauer'sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner'sche Musik: —
der romantische Pessimismus, das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unsrer
Cultur. (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben könne, einen
klassischen — diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von
mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass meinen Ohren das Wort
,klassisch' widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkennt-
lich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft — denn er kommt!
ich sehe ihn kommen! — den dionysischen Pessimismus.)"