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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0805
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782 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen

436, 13-24 Ich habe mich oft gefragt, ob ich den schwersten Jahren meines
Lebens nicht tiefer verpflichtet bin als irgend welchen anderen. So wie meine
innerste Natur es mich lehrt, ist alles Nothwendige, aus der Höhe gesehn und im
Sinne einer grossen Ökonomie, auch das Nützliche an sich, — man soll es
nicht nur tragen, man soll es lieben... Amor fati: das ist meine innerste
Natur. — Und was mein langes Siechthum angeht, verdanke ich ihm nicht unsäg-
lich viel mehr als meiner Gesundheit? Ich verdanke ihm eine höhere Gesund-
heit, eine solche, welche stärker wird von Allem, was sie nicht umbringt! — Ich
verdanke ihr auch meine Philosophie...] Fehlt in FW Vorrede 3; auch
der Begriff des „amor fati" fehlt dort. Jedoch nimmt FW Vorrede 3, KSA 3, 349,
16-350, 3 thematisch einiges vorweg: „Man erräth, dass ich nicht mit Undank-
barkeit von jener Zeit schweren Siechthums Abschied nehmen möchte, deren
Gewinn auch heute noch nicht für mich ausgeschöpft ist: so wie ich mir gut
genug bewusst bin, was ich überhaupt in meiner wechselreichen Gesundheit
vor allen Vierschrötigen des Geistes voraus habe. Ein Philosoph, der den Gang
durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch
durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht
anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzuset-
zen, — diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. Es steht uns
Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk
trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen.
Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate
mit kalt gestellten Eingeweiden, — wir müssen beständig unsre Gedanken aus
unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von
Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss
in uns haben. Leben — das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in
Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir können gar
nicht anders. Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht fast zu fragen
versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist?"
Für den Passus 436, 13-19 gibt es in Mp XVI 6 einen Entwurf (KSA 14, 527).
Der Version von FW Vorrede 3 fehlt noch die triumphierende Geste, Krankheit
und Siechtum endgültig überwunden zu haben, die sich in NW zeigt — parallel
zu entsprechenden Passagen in EH. 1888 erscheint die Krankheit als bloßes
Mittel zum Zweck, nämlich die „innerste Natur" des sprechenden Ichs, sein
„amor fati" zu entschleiern, während 1886 der „Gang durch viele Gesundhei-
ten" dem Denkenden ein reiches Spektrum der Facetten menschlicher Existenz
erschließt, an denen er die Verwandlungskraft der Philosophie erproben kann.
436, 19-24 Und was mein langes Siechthum angeht, verdanke ich ihm nicht
unsäglich viel mehr als meiner Gesundheit? Ich verdanke ihm eine höhere
Gesundheit, eine solche, welche stärker wird von Allem, was sie nicht
 
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