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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0810
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Stellenkommentar NW Epilog, KSA 6, S. 438 787

steckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein,
dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur „ Wahrheit um jeden
Preis", dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit — ist uns verleidet:
dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief... Wir glauben
nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die
Schleier abzieht] Vom verschleierten Bildnis der Isis im ägyptischen Sais —
vgl. FW 57, KSA 3, 421, 9 — wird schon in Plutarch: De Iside et Osiride 9 berich-
tet; berühmt geworden und zur Erzählung verdichtet ist das Motiv durch Schil-
lers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais (1795), die von einem allzu neugieri-
gen Jüngling berichtet, der den Schleier über der Statue der Göttin trotz Verbot
lüftet: „Was ist's, / Das hinter diesem Schleier sich verbirgt? / ,Die Wahrheit',
ist die Antwort — Wie? ruft jener, / Nach Wahrheit streb' ich ja allein, und
diese / Gerade ist es, die man mir verhüllt?" (Verse 22-26) ,„Und wer mit unge-
weihter schuld'ger Hand / Den heiligen, verbot'nen früher hebt, / Der, spricht
die Gottheit' — ,Nun?' — ,Der sieht die Wahrheit.'" (Verse 30-32) Der Jüngling
begeht die Freveltat, verliert angesichts der dadurch geschauten Erkenntnis
seine „Heiterkeit" und sinkt in ein „frühe[s] Grab[.]" (Vers 82), nicht ohne der
Nachwelt noch zu bedenken zu geben: „,Weh dem, der zu der Wahrheit geht
durch Schuld, / Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.'" (Verse 85 f.) Zum
kulturgeschichtlichen Hintergrund von Schillers Ballade siehe Assmann 1999.
Auch in Karl Bleibtreus Lyrischem Tagebuch, das N. besaß, gibt es unter dem
Titel Sphinx ein einschlägiges Gedicht, dessen zweite Strophe lautet: „Der
Wahrheit Saisschleier / Zerriß vor ihrem [sc. der „Sphinxe"] Blick, / Versteint
von der Meduse, / Dem großen Weltgeschick." (Bleibtreu 1885, 43).
438, 25 versteckt] FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 4: „verdeckt".
438, 27 „Wahrheit um jeden Preis"] Schon in NL 1872/73, KSA 7, 19[97], 452,
12 f., notierte N.: „Das Aussprechen der Wahrheit um jeden Preis ist
sokratisch." Bekanntlich ist das weder Sokrates wohlbekommen, noch hegt
N. für Sokrates und dessen Wahrheitswillen eine besondere Sympathie. In FW
344, KSA 3, 574-577 thematisierte N. die „Unnützlichkeit und Gefährlichkeit
des ,Willens zur Wahrheit', der ,Wahrheit um jeden Preis'" (KSA 3, 576, 12-
14) — eines Willens, in dem sich die spezifisch wissenschaftlich-metaphysische
Frömmigkeit des Abendlandes kundtue. Entsprechend verfällt der Wahrheits-
wille der genealogischen Kritik.
438, 30 tief] FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 9: „tief".
438, 31 Schleier abzieht, —] FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 10: „Schleier
abzieht;".
438, 32 glauben...] FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 11: „glauben."
 
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