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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0812
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Stellenkommentar NW Epilog, KSA 6, S. 439 789

nicht gelang: „Da dieß öfter geschah und durch keine Gefälligkeit der unüber-
windliche Vorsatz gebrochen werden konnte, so änderte Baubo die Kunstgriffe
und was sie ernsthaft nicht anzulocken im Stande war, beschloß sie durch
unfläthigen Spaß zu erheitern. Sie befreite also jenen Theil des Leibes, mittelst
dessen das weibliche Geschlecht sowohl Kinder fortpflanzt als auch das
Geschlecht den Namen erwirbt, von dem zottigen Haarwuchs, gab ihm ein
reinlicheres Aussehen und machte ihn glatt wie bei einem noch nicht rauhen
und behaarten Knaben, kehrte dann zur betrübten Göttin zurück, hob, wäh-
rend jenen Gemeinplätzen, welche man zur Schwächung und Mäßigung der
Trauer wie gebräuchlich anwendet, ihre Gewänder auf und zeigte alle jene Orte
der Scham am entblößten Leibe. Unverzüglich heftete die Göttin die Augen auf
die Scham und weidete sich an der unerhörten Beschaffenheit des Trostes.
Dann durch Lachen erheiterter nahm und genoß sie den verschmähten Trank;
und was lange der Baubo Scheu nicht hervorbringen konnte, erpreßte so der
schandvollen Handlung Unzüchtigkeit." (Arnobius 1842, 153) Im Kommentar
zu dieser Stelle teilte der Herausgeber Franz Anton von Besnard eine Parallele
im Protreptikos des Clemens Alexandrinus mit, die N. sich am Rand markiert
hat: „Als Demeter ihre Tochter Kora suchend umherirrte, setzte sie sich zu
Eleusis in Attika ermüdet und traurig an einem Brunnen nieder. Dieß zu thun
ist auch jetzt noch den Eingeweihten verboten, damit sie nicht nach empfange-
ner Weihe Trauernde nachzuahmen scheinen. [...] Baubo, auch dieß will ich
nicht verschweigen, bewirthete nun die Deo und bot ihr einen Mischtrank an.
Da aber die Göttin ihn zu nehmen verweigerte und nicht trinken wollte, weil
sie in tiefer Trauer war, so grämte sich Baubo darüber sehr, weil sie verschmäht
zu seyn glaubte, enthüllte ihre Schaamtheile und zeigte dieselben der Göttin.
Deo aber erfreute sich über den Anblick und nahm nun, obwohl ungern, den
Trank an, weil ihr das was sie sah Vergnügen machte. Dieß sind die geheimen
Mysterien der Athener, von denen auch Orpheus schreibt. Ich will des Orpheus
Verse selbst hersetzen, damit der Mystagoge selbst Zeuge der Schamlosigkeit
sey: / Sie nun Hub die Gewand' und zeigt' unschicklich gestaltet / ganz den
Leib. Da nahte der Knab' lacchos und klatscht' ihn / sanft mit der Hand aufla-
chend der Baubo unter dem Rockschooß. / Baubo lächelte deß, auch lächelte
herzlich die Göttin; / und sie empfing das bunte Gefäß, das faßte den Misch-
trank." (Arnobius 1842, 548) Baubo ist also diejenige, die ihre Scham ent-
hüllt — jene Scham, die man besser in Ehren halte (439, 4 f.). N. polemisiert
mit der Evokation der Baubo gegen den Wahrheitsexhibitionismus, der seiner
Meinung nach in der europäischen Geistesgeschichte vorherrscht.
439, 9 f. Griechen! sie verstanden sich darauf, zu leben! Dazu thut noth,] FW
Vorrede 4, KSA 3, 352, 21 f.: „Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben:
dazu thut Noth,".
 
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