Logische Studien über Entwicklung.
Da würde also ein extraphysikales (obschon, wie Boussinesq
mit Recht sagt, nicht extranaturales) Agens am Werk sein, welches
autonom, ja frei wirkt, ohne auch nur irgendwie das Wesen
des „Mechanischen“ zu verletzen.
Es fragt sich nun, ob Boussinesqs Gedankengang wirklich
grundsätzlich zulässig ist. Schon E. du Bois-Reymond hat das
bestritten: nichts vermöge ohne echten Kraftaufwand den schwe-
ren Massenpunkt aus dem labilen Gleichgewicht herauszubringen,
„auch auf bis zur Reibungslosigkeit polierter Unterlage gehört
dazu eine wenn auch noch so kleine mechanische Kraft.“
Mir scheint die Angelegenheit so zu liegen: Boussinesq ver-
wechselt einen geometrischen Sachverhalt mit einem physikalischen.
Eine Differentialgleichung gibt, planimetrisch gedeutet, das Rich-
tungsgesetz der Tangenten in den einzelnen Punkten einer Kurve
an; jeder einzelne Wert einer Differentialgleichung gilt für eine
Tangente. Hat eine Differentialgleichung singuläre Lösungen, so
heißt das, daß die Kurve, deren Gleichung ihre Integralgleichung
ist, ausgezeichnete Punkte hat, und zwar können das Punkte sein,
welche auch zu einer anderen Kurve (z. B. der Enveloppe oder einer
unendlich nahen Kurve der gleichen Schar), gehören könnten.
In diesem Falle gibt es für den Kurven verlauf Unbestimmtheiten
bezw. Bifurkationsorte: das Wissen um früheren Verlauf bedeutet
nicht ohne weiteres sicheres Wissen um späteren. Es handelt sich
dabei durchaus nur um Geometrisches; das Wort „Verlauf“ ist.
bildlich verstanden und bedeutet nicht eine Bewegung, sondern
nur eine Gesamtheit von Orten für mögliche Bewegung.
Ganz anders in der Mechanik, also auch bei dem Beispiel
Boussinesqs: Hier handelt es s'ich um wirkliche Bewegung. Der
sich der Schwerkraftwirkung entgegen bewegende Massenpunkt
bewegt sich zwar auf einer Kurve, deren späterer Verlauf durch
das Wissen um den früheren nicht eindeutig gekannt ist; aber seine
Bewegung „ist“ nicht die Kurve. Die Kurve mag in ihrem weiteren
„Verlauf“ indeterminiert sein, wenn nur ihre Differentialgleichung
gekannt ist. Die Bewegung aber, welche bisher auf der Kurve
geschah, hat gar keinen weiteren „Verlauf“ (welches Wort
hier im eigentlichen Sinne zu verstehen sein würde), sondern ist,
wenn auf dem höchsten Punkte Ruhe eingetreten ist, radikal zu
Ende! Also kann ihr weiterer Verlauf, (welcher ja einstweilen
überhaupt gar nicht in Frage kommt!), auch nicht indetermi-
niert sein. Erst eine neue Bewegungsursache, mag sie auch des
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1919. 18. Abh.
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Da würde also ein extraphysikales (obschon, wie Boussinesq
mit Recht sagt, nicht extranaturales) Agens am Werk sein, welches
autonom, ja frei wirkt, ohne auch nur irgendwie das Wesen
des „Mechanischen“ zu verletzen.
Es fragt sich nun, ob Boussinesqs Gedankengang wirklich
grundsätzlich zulässig ist. Schon E. du Bois-Reymond hat das
bestritten: nichts vermöge ohne echten Kraftaufwand den schwe-
ren Massenpunkt aus dem labilen Gleichgewicht herauszubringen,
„auch auf bis zur Reibungslosigkeit polierter Unterlage gehört
dazu eine wenn auch noch so kleine mechanische Kraft.“
Mir scheint die Angelegenheit so zu liegen: Boussinesq ver-
wechselt einen geometrischen Sachverhalt mit einem physikalischen.
Eine Differentialgleichung gibt, planimetrisch gedeutet, das Rich-
tungsgesetz der Tangenten in den einzelnen Punkten einer Kurve
an; jeder einzelne Wert einer Differentialgleichung gilt für eine
Tangente. Hat eine Differentialgleichung singuläre Lösungen, so
heißt das, daß die Kurve, deren Gleichung ihre Integralgleichung
ist, ausgezeichnete Punkte hat, und zwar können das Punkte sein,
welche auch zu einer anderen Kurve (z. B. der Enveloppe oder einer
unendlich nahen Kurve der gleichen Schar), gehören könnten.
In diesem Falle gibt es für den Kurven verlauf Unbestimmtheiten
bezw. Bifurkationsorte: das Wissen um früheren Verlauf bedeutet
nicht ohne weiteres sicheres Wissen um späteren. Es handelt sich
dabei durchaus nur um Geometrisches; das Wort „Verlauf“ ist.
bildlich verstanden und bedeutet nicht eine Bewegung, sondern
nur eine Gesamtheit von Orten für mögliche Bewegung.
Ganz anders in der Mechanik, also auch bei dem Beispiel
Boussinesqs: Hier handelt es s'ich um wirkliche Bewegung. Der
sich der Schwerkraftwirkung entgegen bewegende Massenpunkt
bewegt sich zwar auf einer Kurve, deren späterer Verlauf durch
das Wissen um den früheren nicht eindeutig gekannt ist; aber seine
Bewegung „ist“ nicht die Kurve. Die Kurve mag in ihrem weiteren
„Verlauf“ indeterminiert sein, wenn nur ihre Differentialgleichung
gekannt ist. Die Bewegung aber, welche bisher auf der Kurve
geschah, hat gar keinen weiteren „Verlauf“ (welches Wort
hier im eigentlichen Sinne zu verstehen sein würde), sondern ist,
wenn auf dem höchsten Punkte Ruhe eingetreten ist, radikal zu
Ende! Also kann ihr weiterer Verlauf, (welcher ja einstweilen
überhaupt gar nicht in Frage kommt!), auch nicht indetermi-
niert sein. Erst eine neue Bewegungsursache, mag sie auch des
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1919. 18. Abh.
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