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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0023
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

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3 Die Struktur und das Funktionieren sprachlicher
Systeme
Das Denkmodell der Alphabetschrift - und mit ihr das der
menschlichen Sprache - ist, wie sich gezeigt hat, in der molekularen
Genetik auf fruchtbaren Boden gefallen. Wie die Laute der mensch-
lichen Sprachen selbst in aller Regel keine Bedeutung haben, son-
dern als Kombination von Lauten für etwas stehen, was mit ihrer
Qualität als Laute nichts zu tun hat - eben für eine Bedeutung - so
stehen auch Tripel aus Nukleotiden oder „Tripletts“ (die genetischen
„Wörter“) für etwas, was mit ihrer Qualität als Nukleotide überhaupt
nichts zu tun hat, nämlich für Aminosäuren14. In den menschlichen
Sprachen nennt man dies die „doppelte Artikulation“15. So, wie die
Wörter der Sprache zu einer unendlichen Vielfalt von Texten kombi-
niert werden können, bauen sich aus den Aminosäuren alle Formen
des Lebendigen auf.
Der beständige Vergleich mit dem sprachlichen Code hat die
stürmische Entwicklung und die höchst folgenreichen Entdeckun-
gen begleitet, die in der molekularen Genetik seit den 50er Jahren
gemacht wurden. Man spricht so vom genetischen Text, von seiner
Kopie, seiner Lektüre und Übersetzung, seiner Interpretation oder
seinem Ausdruck - engl./frz. expression - in Form von Eiweißketten.
14 Dem entspricht bei den Eukaryoten auch die räumliche Trennung der beiden
Bereiche durch die - poröse - Kernhülle mit der RNA bzw. RN S als Mittler zwi-
schen den beiden Bereichen; vgl. oben 2.2.
15 Vgl. zur Konzeption von der „doppelten Artikulation“ menschlicher Sprachen -
die komplexeren, bedeutungstragenden Zeichen sind aufgebaut aus Lauten,
die für sich genommen keine Bedeutung haben - Martinet 1960, section 1.9. - In
den menschlichen Sprachen gibt es den - scheinbaren - Extremfall, daß ein ein-
ziger Laut eine Bedeutung trägt. Das Beispiel des franz, /u/ mit sogar fünf
Bedeutungen (graphisch differenziert als ou, oü, aoüt, houe, houx) zeigt freilich,
daß in allen Fällen ein bestimmter Kontext als zusätzliches Signal erforderlich
ist, sodaß in Wirklichkeit gar nicht das Phonem allein etwas bedeutet: oü „wo?“
und ou „oder“ kommen stets in einer jeweils anderen Umgebung vor als die drei
restlichen, nominalen Fälle von /u/, und diese sind ihrerseits dadurch differen-
ziert, daß aoüt die sogenannte „liaison“ mit dem Artikel zuläßt (l’aoüt - meist
wird überdies heute im Sinne einer „spelling pronunciation“ das Schluß-t wie-
der ausgesprochen), während sie in den beiden anderen Fällen - signalisiert
durch das sog. h aspire - nicht möglich ist. Dadurch wird der Gewsunterschied
zwischen le houx „Stechpalme“ und la houe „Haue“ hörbar.
 
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