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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0025
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

17

rem beruht die ganze Existenzberechtigung dessen, was wir die
Grammatik einer Sprache nennen18.
Das Problem liegt nun darin, daß man Mehrdimensionales nicht
aus der eindimensionalen Projektion rekonstruieren kann, wenn
nicht eine Reihe von zusätzlichen Vorkehrungen getroffen sind:
Damit uns deutlich wird, worin solche Vorkehrungen bestehen, will
ich eine kleine Demonstration machen. Ich wähle bewußt kein
deutsches Beispiel, sondern ein lateinisches, weil erst durch die Ver-
fremdung am schwierigeren Material und in der Zeitlupe das sinn-
fällig wird, worüber wir uns beim Gebrauch der Mutterspache kei-
nerlei Rechenschaft ablegen. Das kleine Beispiel stammt aus der
Satire II. 6 von Horaz :
79 olim
80 rusticus urbanum murem mus paupere fertur
81 accepisse cavo, veterem vetus hospes amicum,
82 asper et attentus quaesitis, ut tarnen artum
83 solveret hospitiis animum.
Ich halte mich nicht mit der Frage auf, was es unserem Gehör
gestattet, aus einer Kette von Lauten lexikalische Einheiten heraus-
zuhören und gehe stattdessen gleich zu den hierarchisch höheren
Ebenen über, also zu den Problemen der Synthese von Bedeutun-
gen. Das erste Wort, olim, „einst“, ist ein wichtiges Signal, das unsere
Erwartung für alles Folgende so lange steuert, bis es aufgehoben
wird: Wir wissen, daß wir es mit einer bestimmten Art der Erzäh-
lung zu tun haben werden. Rusticus könnte seiner Form nach
18 In einer anderen Form findet sich dieselbe Überlegung in den Elements de syn-
taxe structurale von Lucien Tesniere (1965), premiere partie, chapitre 7:
Es gibt eine Antinomie zwischen der strukturellen Anordnung [eines Sat-
zes], die mehrdimensional ist (im Satzstemma ist sie auf zwei Dimensionen
reduziert), und der linearen, eindimensionalen Abfolge. Diese Antinomie
ist die Quadratur des Zirkels in der Sprache. Die Lösung des Problems ist
die conditio sine qua non unseres Sprechens. (II y a donc antinomie entre
l’ordre structural, qui est ä plusieurs dimensions (reduites ä deux dans le
stemma), et l’ordre lineaire, qui est ä une dimension. Cette antinomie est la
„quadrature du cercle“ du langage. Sa resolution est la condition sine qua
non de la parole.)
Tesniere spricht von der Quadratur des Kreises, weil es in unseren menschli-
chen Sprachen keine in jeder Hinsicht adäquate Lösung des Problems geben
kann, die sich aus derUmwandlung des Simultanen und Mehrdimensionalen in
eine eindimensionale Abfolge ergibt.
 
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