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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0033
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

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und kopieren diese Abfolge von Nukleotid-Paaren mit einer
unglaublichen Geschwindigkeit.
Der zweite Aspekt des Problems ist nicht das beständige Kopie-
ren dieser genetischen Gesamt-Information, sondern etwas ganz
anderes: Jeder neue Organismus entsteht aus einer einzigen
Eizelle. Unser menschlicher Körper besteht aus etwa 6 • 1013 solcher
Zellen. Wären diese Zellen, die allesamt dieselbe genetische Infor-
mation enthalten, identisch, so entstünde nichts als eine giganti-
sche, amorphe Ansammlung immer nur derselben Zellen. Statt des-
sen entsteht - aus der alleinigen Eizelle - nach und nach ein hoch
komplexer und höchst differenzierter Organismus aus z.T. hoch
spezialisierten Zellen, in dem das Ganze in unendlichem Maße
über die Zell-Elemente hinausgeht, aus denen es aufgebaut ist. Dies
bedeutet aber nichts anderes, als daß im Laufe der embryonalen
Entwicklung - der sogenannten Morphogenese - der genetische
Code in den einzelnen Zellen nur in einer höchst selektiven und
spezifischen Weise gelesen und umgesetzt werden darf. Woher aber
wissen - um diese anthropomorphe Wendung zu wählen - die jewei-
ligen Zellen, was aus ihnen und aus den Zellen werden soll, die
durch erneute Teilung aus ihnen hervorgehen? Wer sagt also einer
Zelle, daß die Information, die sie braucht, im Kapitel „Nervensy-
stem“, Unterkapitel „Rückenmark“, Abschnitt „Ischias-Nerv“ geholt
und umgesetzt werden muß, und nicht unter der Rubrik „Wirbel“,
der Rubrik „Magen“ oder der Rubrik „linke große Zehe“ ?
Hier liegt in verschärfter Form dasselbe Problem vor, das wir
schon aus dem sprachlichen Code kennen: bei der Morphogenese
entsteht in einer kontinuierlichen, genau programmierten Abfolge
ein wohlstrukturiertes dreidimensionales Gebilde. Nimmt man die
Dimension der Zeit hinzu, so muß sogar die Information über die
Entstehung eines vierdimensionalen Ganzen auf die eine Dimen-
sion des genetischen Lochstreifens projiziert sein26. Da man vier
hierarchische Kriterien für die Einordnung hat. (Auch eine Methode, für die die
Heidelberger Akademie den Karl-Freudenberg-Preis 1991 an Peter Lichter ver-
liehen hat, dürfte dabei von Bedeutung sein.)
Einer der wichtigsten Neben-Effekte besteht darin, daß die schnellere
Arbeit der französischen Gruppe ein Problem gegenstandslos macht, das die
Gemeinde der Mikrobiologen stark beschäftigt hat: nämlich die Praxis einiger
amerikanischer Forscher, entschlüsselte Gen-Sequenzen zum Patent anzumel-
den. Nach menschlichem common sense sollten eigentlich nur Erfindungen,
nicht Entdeckungen patentierbar sein.
26 So formuliert findet sich das Problem z.B. auch bei Gehring:
How the linear information combined in the DNA can generate a speciflc
 
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