Metadaten

Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0042
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
34

Wolfgang Raible

wie Jacques Monod, Francois Jacob, Manfred Eigen oder Friedrich
Cramer („Chaos und Ordnung“) kreisen in solchen Zusammenhän-
gen häufig um die Begriffe Zufall und Notwendigkeit35. In der Tat
handelt es sich um zwei Sehweisen, die sich im vorliegenden
Zusammenhang ganz offenbar aufdrängen: Betrachtet man die Ent-
wicklung des Embryos, dann entsteht, ausgehend von einer Eizelle,
ein komplexer Organismus, der nach einem genau festgelegten Plan
Gestalt annimmt. Der Embryo folgt diesem Plan mit einer solchen
Genauigkeit, daß man in diesem Zusammenhang den Begriff Teleo-
nomie verwenden kann36. Dies ist die Sehweise, die vom Ergebnis
ausgeht. Wählt man hingegen eine Perspektive, die von der Entste-
hung des Lebens schlechthin ausgeht, dann wird der Zufall zu
einem wesentlichen Faktor in einem Regelkreis, in dem die Anpas-
sung an die Umwelt - sei es an die der eigenen Spezies, sei es die
außerhalb der eigenen Spezies - eine erstrangige Rolle spielt. Wie
groß auch immer die Genauigkeit und die Notwendigkeit sein
mögen, mit der ein Embryo die Form erhält, die ihm durch seine
Gattung vorgegeben ist - es bleibt ein Quentchen Zufall (oder,
wenn man will, Chaos), gleichgültig, ob der Zufall von Lekürefeh-
lern herrührt, oder vom Prinzip der Befruchtung, nach dem die
genetischen Informationen von zwei Partnern verschiedenen
Geschlechtes sich innerhalb der Eizelle vereinigen.
In diesem Zusammenhang zeigt sich nun die volle Wirksamkeit
des schon erwähnten ehernen Prinzips, das auf den ersten Blick
wenig sinnvoll erscheinen könnte: also des Prinzips, in der Ontoge-
35 Monod (1970) hat den Titel seines Buchs Le hasard et la necessite sogar explizit
Demokrit entlehnt.
36 Da der Begriff „Teleologie“ in der Geschichte der Naturwissenschaften anrüchig
geworden ist, wird heute sehr häufig der von C.S. Pittendrigh geprägte Begriff
der „Teleonomie“ - im Sinne eines zielgerichteten Programms - verwendet. Das
Hauptproblem war, daß das Konzept der Teleologie eine alles steuernde Ver-
nunft voraussetzt, die die Ziele setzt, auf die hin sich etwas entwickelt. De facto
haben dann allerdings Naturwissenschaftler dieser alles steuernden Vernunft
jeweils die mehr oder minder weitreichenden tez.ti unterstellt, die ihnen selbst
eingefallen waren. (Namentlich im 18. Jh. gibt es erheiternde Beispiele.) Fran-
cois Jacob hat in diesem Zusammenhang den folgenden schönen Vergleich
geprägt:
Longtemps le biologiste s’est trouve devant la teleologie comme aupres
d’une femme dont il ne peut se passer, mais en compagnie de qui il ne
veut pas etre vu en public. A cette liaison cachee, le concept de Pro-
gramme donne maintenant un Statut legal. (Jacob 1970: 17; vgl. auch
Monod 1970: 19-38.)
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften