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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0058
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Wolfgang Raible

im genetischen Code eher Eindeutigkeit oder, bei den geneti-
schen „Wörtern“, sogar Homonymie.
2. Materielles vs. flüchtiges Endprodukt, Konstanz vs. Variation. Im
Bereich der Genetik ist das, was dem übersetzten - oder „ausge-
drückten“ - genetischen Lochstreifen entspricht, ein lebendiges
Wesen, meist sichtbar und berührbar, auf jeden Fall etwas Mate-
rielles. Das Bedeutungskorrelat einer sprachlichen Botschaft ist
dagegen etwas vom Flüchtigsten, was es gibt, weil die beständige
Synthese von Ausgangseinheiten zu jeweils immer größeren
Einheiten beim Vorgang des Verstehens nur in sehr unvollkom-
mener Weise funktioniert58. Phylogenetisch ist die Errungen-
schaft der Sprache wohl noch etwas jung. Der genetische Code
gehört dagegen zu einem System, in dem - erblich und vom
Gesamtergebnis her gesehen - die Übertragung nicht nur perfekt
sein muß, sondern auch perfekt ist. Wir erhalten aus einer Eizelle
als übermittelte Botschaft des genetischen Codes letztlich wie-
der ein ausgewachsenes Lebewesen derselben Gattung. Im End-
ergebnis abweichende Interpretationen sind nicht allzu häufig.
Zudem: Der Code einer Gattung enthält stets dieselbe - oder
doch fast dieselbe - Botschaft, die verkörpert wird durch ein
neues Lebewesen (Pflanze, Tier) derselben Gattung. Ein
Höchstmaß an Konstanz, Permanenz und Reproduktion sind
entscheidend. Sie sind sogar das Geheimnis des biologischen
Erfolgs schlechthin59.
3. Selektives vs. lineares Verarbeiten der Botschaft. Sprachliche Bot-
schaften sind in der Regel für eine lineare Rezeption gedacht. Sie
werden, bezogen auf das Beispiel unserer Alphabetschrift, „von
links nach rechts“ abgearbeitet. Metakommunikative Signale
werden dazu verwendet, die linearisierten Teile der Botschaft
einander zuzuordnen und zu größeren Einheiten zusammenzu-
ordnen. Unsere sprachlichen Botschaften haben, wenn sie in der
und die Zeichenkörper noch die modi intelligendi und die modi significandi tre-
ten.
58 Die Flüchtigkeit existiert in eingeschränktem Maße auch in Teilen des moleku-
laren Bereichs: in Form von Zwischenprodukten, z.B. sogenannten scaffolding
proteins, die etwa dazu dienen können, einer Polypeptidkette zur gewünschten
räumlichen Gestalt zu verhelfen. Vgl. oben Anm. 13.
59 Zum Erfolg der Evolution gehört, im Rahmen der grundlegenden Konstanz,
natürlich auch das bereits erwähnte Maß an Inkonstanz, Chaos und Zufall.
 
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