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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0062
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Wolfgang Raible

6. Die Rolle der Zeit, Gradienten. Ein weiterer Unterschied zwi-
schen den beiden Systemen rührt vermutlich daher, daß die Zahl
der Replikationen, die eine Zelle hinter sich gebracht hat, ein
wichtiges Signal für die Lektüre oder Nicht-Lektüre von Infor-
mationen sein kann, die im Genom enthalten sind. Die Kontext-
sensitivität kann sich auf den Konzentrationsgrad eines
bestimmten Stoffes erstrecken, also auf ein mehr oder weniger,
das in der Biologie ein wichtiges Signal für die Aktivität von Zel-
len sein kann. Hier dürfte es allerdings keine prinzipiellen, son-
dern eher graduelle Unterschiede zu den menschlichen Spra-
chen geben67. Da Zellen keinesfalls voneinander isoliert sind,
sondern sehr leistungsfähige Informationssysteme besitzen,
dürfte diese Art der Kontextempfindlichkeit oder „context sensi-
vity“ eine wichtige Rolle spielen.
Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Systemen ist
schließlich wohl der folgende:
7. Replikation vs. Kreativität. Unser sprachliches Kommunikations-
system ist selbst ein Ergebnis der Evolution. Mit ihm besitzen
wir ein fast unbegrenztes Potential kultureller Kreation und
Kreativität. Wir können sprachliche Texte, weil sie - notgedrun-
gen - offen sind, ganz anders lesen, als ihre Schöpfer dies inten-
diert haben - wie etwa dann, wenn der Sprachwissenschaftler die
Diskurse des Biologen liest68. Sprachlich können wir zudem
etwas erfinden, was niemals existiert hat und auch niemals exi-
stieren wird69. Wir können sogar - in Fortsetzung einer gewissen
67 Die Erscheinung von „Gradienten“ ist auch in sprachlichen Systemen nichts
Unbekanntes. Was die Ebene der Realisierung sprachlicher Systeme angeht,
kann man hier etwa an sogenannte Tonsprachen denken, in denen bis zu fünf
Tonhöhen als bedeutungsunterscheidend verwendet und von den Hörern als
solche erkannt werden, obwohl sie zweifellos nur Positionen in einer Skala
besetzen, also stets relativ realisiert werden. Bei der Beschreibung von Sprach-
systemen, nicht zuletzt in der sprachlichen Universalienforschung, macht man
seit etwa zwanzig Jahren mit großem Erfolg von Skalen zwischen zwei Extrem-
polen Gebrauch. In der Regel handelt es sich um konzeptionelle oder kognitive
Skalen. Als Beispiel sei die Skala zwischen finiten Verben und Nomina genannt,
auf der in jeder Sprache eine ganze Reihe von Positionen besetzt sind. Vgl.
hierzu etwa Raible 1992.
68 Vgl. Grundlegend zu diesem Problem Gadamer 51986.
69 Eugenio Coseriu hat wiederholt darauf hingewiesen, da die,Kreativität“ zu den
essentiellen Universalien der Sprache gehört, also zu den Eigenschaften, ohne
 
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