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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Jahresfeier am 21. Mai 2005
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Stierle, Karlheinz: Zeitgestalten - Figurationen der Zeitlichkeit in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0024
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21. Mai 2005 | 37

KARLHEINZ STIERLE HÄLT DEN VORTRAG:
„ZEITGESTALTEN - FIGURATIONEN DER ZEITLICHKEIT IN
MARCEL PROUSTS 'AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT"'
„Quid est ergo tempus“, was also ist die Zeit? Vor dieser Frage bekennt Augustinus
seine Perplexität. Ist die Zeit oder ist sie nicht? Gibt es eine Zeit oder viele Zeiten,
und was heißt lange Zeit, „longum tempus“? Die Frage nach der Zeit stellt sich in
den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit neuer Dringlichkeit angesichts von
Zeiterfahrungen radikal neuer Art, die wesentlich im Zusammenhang mit neuen
Technologien der Beschleunigung stehen, mit der die Welt ein neues Gesicht erhielt.
Nie zuvor schlug der Puls der Zeit so schnell. Damit erhält aber auch die Frage nach
der Zeit eine neue Qualität. Nach Bergson, Simmel und Husserl hat vor allem Mar-
tin Heidegger in seinem 1927 erschienenen Hauptwerk Sein und Zeit die Grund-
frage Augustins wiederholt, ja fast scheint es, als habe er mit seinen Analysen der
Zeitlichkeit des Daseins erstmals versucht, auf Augustins Perplexität eine grundsätz-
liche Antwort zu finden.
1913 erschien in Paris, von der literarischen Öffentlichkeit so gut wie unbe-
merkt, der erste Band von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Im Kontext
des auf die Herausforderung neuer Zeiterfahrungen der modernen Welt antworten-
den Zeitdiskurses ist Prousts Werk von singulärer Bedeutung. Auf die philosophische
Frage: Was ist die Zeit? gibt Proust keine philosophische, sondern eine literarische
Antwort, die als diese auf der Höhe der theoretischen Reflexion der Zeit ist, ja diese
übertrifft. Literatur gibt keine Antworten, sie denkt nicht in Begriffen, sondern in
Gestalten. Daher ist die Zeitgestalt eine der Literatur eigene Möglichkeit, die Zeit zu
denken. Daß Prousts Werk einen philosophischen Anspruch hat und aus philosophi-
scher Einsicht zur literarischen Form kommt, wird unzweideutig nahegelegt, wenn
der junge Marcel, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt, nach einem „Gegenstand,
dem ich eine unendliche philosophische Bedeutung geben kann“1 sucht, von dem
er erst in langen Lehrjahren erkennen wird, daß es die Zeit ist.
Zeit ist als diese nicht faßbar, sie bleibt ein reines Abstractum. Sie muß sich
manifestieren oder zur Manifestation genötigt werden. Manifestationen der Zeit,
sofern sie darauf gerichtet sind, Zeit kommunikabel zu machen und ms Faßliche zu
ziehen, kann man Zeitgestalten nennen. Proust selbst hat von der Notwendigkeit,
Zeitgestalten zu schaffen, um Zeit ansichtig werden zu lassen, die klarste Einsicht:
„Die Zeit, die gewöhnlich nicht sichtbar ist, sucht sich, um es zu werden, Körper,
und überall, wo sie diesen begegnet, bemächtigt sie sich ihrer, um ihre Laterna magi-
ca auf sie zu richten“2. Aber diese Körper haben keine materielle Realität, es sind
Gestalten des Bewußtseins, die erst im Medium Sprache zu ihrer Ausdrücklichkeit

1 (...) tächant de trouver un sujet oü je pusse faire temr une signification philosophique infinie,
(...) in Marcel Proust,/! la recherche du temps perdu, edition publiee sous la direction de Jean-Yves
Tadie, Bibliotheque de la Pleiade, 4 vol., Paris 1987—89, 1,170.
(...) leTemps qui d’habitude n’est pas visible, pour le devenir cherche des corps et, partout oü il
les rencontre, s’en empare pour montrer sur eux sa lanterne magique. IV, 5o3.
 
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