21. Mai 2005
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ihr eröffnet sich die Tiefe der Zeit bis zu den fernsten merowingischen Vergangen-
heiten. Sie ist der wahre Triumph über das Jetzt: „(...) ein Bauwerk, das, wenn man
so sagen kann, einen vierdimensionalen Raum einnahm - mit der Zeit als vierter
Dimension — und das sein Schiff durch die Jahrhunderte trug, das von Joch zu
Joch, von Kapelle zu Kapelle siegreich nicht nur um einige Meter voranzukommen
schien, sondern aufeinander folgende Epochen durchmaß, aus denen es als Sieger
hervorging“9. Die Kirche St.-Hilaire ist das Emblem einer Legende der Zeiten, die
von den frühesten Zeiten der Kultur bis zur Gegenwart reicht und deren Sedimente
ein unablässiges Bewußtsein von Zeittiefe aktivieren.
Die wiedererstandene Welt von Combray steht im Zeichen der Wiedergeburt
des Jahres und des jubilatorischen Jetzt ephemerer Blüten, die sich im Duft zu einer
Fülle der Gegenwärtigkeit vereinigen. Emblem dieser aus der Erinnerung neugebo-
renen Blütenwelt sind die getrockneten Lindenblüten, die als Teeaufguß ihren Duft
erneut verbreiten und, wie aus unansehnlichen japanischen Papierblumen, in Wasser
getaucht, eine imaginäre Blumenfülle hervorgeht, eine Welt der Blüten erwecken.
Wenn Marcels erste Aufgabe nach der Ankunft darin besteht, im Zimmer der Tante
Leonie für ihren Lindenblütentee aus dem Sack mit Lindenblüten eine Portion auf
einen Teller auszuschütten, so entsteht dabei gleichsam aus der stillgestellten Zeit der
getrockneten Lindenblüten eine imaginäre Sequenz von den noch grünen Knospen
bis zu den aufgeblühten rosa Blütenblättern, die im Unscheinbarsten eine Korre-
spondenz zur Zeit als vierter Dimension der Kathedrale herstellen. Eine wahre Zeit-
plastik aber ist die in einen Satz gedrängte Beschreibung des schon fast verblühten
Fliederstrauchs, den Marcel bei einem der habituellen Spaziergänge mit den Eltern
fasziniert wahrnimmt: „Die Zeit des Flieders nahte ihrem Ende; einige Zweige
verschwendeten noch in hohen malvenfarbenen Lüstern die zarten Bläschen ihrer
Blüten, aber in einem großen Teil des Blattwerks, wo vor nur einer Woche sich ihre
duftende Gischt verströmt hatte, welkte jetzt, verschrumpelt und geschwärzt, em
hohler, trockener und geruchloser Schaum“10. Was Marcel hier, ohne es noch zu
wissen, in den Bann schlägt, ist der Flieder als Zeitplastik, die verlangt, sprachliche,
syntaktisch gebundene Zeitplastik zu werden.
Eine Zeitgestalt ganz anderer Art ist es schließlich, wenn Marcel, der bei sei-
nen Spaziergängen immer wieder Wahrnehmungen macht, die in ihm, ohne daß er
den Grund erkennen könnte, em besonderes Glücksgefühl auslösen und die er sich
tief einzuprägen sucht, eines Tages in der schnell fahrenden Kutsche die Erfahrung
einer bewegten Konfiguration zwischen bewegter Kutsche, ihrem Weg, den wech-
9 (...) un edifice occupant,si l’on peur dire,un espace ä quatre dimensions -la quatrieme etant celle
du Temps —, deployant ä travers les siecles son vaisseau qui, de travee en travee, de chapelle en
chapelle, semblait vaincre non pas seulement quelques metres, mais des epoques successives d’oü
il sortait victorieux; I, 60.
10 Le temps des lilas approchait de sa fin; quelques-uns effusaient encore en hauts lustres mauves les
bulles delicates de leurs fleurs, mais dans bien des parties du feuillage oü deferlait, il y avait seule-
ment une semaine, leur mousse embaumee, se fletrissait, diminuee et noircie, une ecume creuse,
seche et sans parfum. I, 134.
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ihr eröffnet sich die Tiefe der Zeit bis zu den fernsten merowingischen Vergangen-
heiten. Sie ist der wahre Triumph über das Jetzt: „(...) ein Bauwerk, das, wenn man
so sagen kann, einen vierdimensionalen Raum einnahm - mit der Zeit als vierter
Dimension — und das sein Schiff durch die Jahrhunderte trug, das von Joch zu
Joch, von Kapelle zu Kapelle siegreich nicht nur um einige Meter voranzukommen
schien, sondern aufeinander folgende Epochen durchmaß, aus denen es als Sieger
hervorging“9. Die Kirche St.-Hilaire ist das Emblem einer Legende der Zeiten, die
von den frühesten Zeiten der Kultur bis zur Gegenwart reicht und deren Sedimente
ein unablässiges Bewußtsein von Zeittiefe aktivieren.
Die wiedererstandene Welt von Combray steht im Zeichen der Wiedergeburt
des Jahres und des jubilatorischen Jetzt ephemerer Blüten, die sich im Duft zu einer
Fülle der Gegenwärtigkeit vereinigen. Emblem dieser aus der Erinnerung neugebo-
renen Blütenwelt sind die getrockneten Lindenblüten, die als Teeaufguß ihren Duft
erneut verbreiten und, wie aus unansehnlichen japanischen Papierblumen, in Wasser
getaucht, eine imaginäre Blumenfülle hervorgeht, eine Welt der Blüten erwecken.
Wenn Marcels erste Aufgabe nach der Ankunft darin besteht, im Zimmer der Tante
Leonie für ihren Lindenblütentee aus dem Sack mit Lindenblüten eine Portion auf
einen Teller auszuschütten, so entsteht dabei gleichsam aus der stillgestellten Zeit der
getrockneten Lindenblüten eine imaginäre Sequenz von den noch grünen Knospen
bis zu den aufgeblühten rosa Blütenblättern, die im Unscheinbarsten eine Korre-
spondenz zur Zeit als vierter Dimension der Kathedrale herstellen. Eine wahre Zeit-
plastik aber ist die in einen Satz gedrängte Beschreibung des schon fast verblühten
Fliederstrauchs, den Marcel bei einem der habituellen Spaziergänge mit den Eltern
fasziniert wahrnimmt: „Die Zeit des Flieders nahte ihrem Ende; einige Zweige
verschwendeten noch in hohen malvenfarbenen Lüstern die zarten Bläschen ihrer
Blüten, aber in einem großen Teil des Blattwerks, wo vor nur einer Woche sich ihre
duftende Gischt verströmt hatte, welkte jetzt, verschrumpelt und geschwärzt, em
hohler, trockener und geruchloser Schaum“10. Was Marcel hier, ohne es noch zu
wissen, in den Bann schlägt, ist der Flieder als Zeitplastik, die verlangt, sprachliche,
syntaktisch gebundene Zeitplastik zu werden.
Eine Zeitgestalt ganz anderer Art ist es schließlich, wenn Marcel, der bei sei-
nen Spaziergängen immer wieder Wahrnehmungen macht, die in ihm, ohne daß er
den Grund erkennen könnte, em besonderes Glücksgefühl auslösen und die er sich
tief einzuprägen sucht, eines Tages in der schnell fahrenden Kutsche die Erfahrung
einer bewegten Konfiguration zwischen bewegter Kutsche, ihrem Weg, den wech-
9 (...) un edifice occupant,si l’on peur dire,un espace ä quatre dimensions -la quatrieme etant celle
du Temps —, deployant ä travers les siecles son vaisseau qui, de travee en travee, de chapelle en
chapelle, semblait vaincre non pas seulement quelques metres, mais des epoques successives d’oü
il sortait victorieux; I, 60.
10 Le temps des lilas approchait de sa fin; quelques-uns effusaient encore en hauts lustres mauves les
bulles delicates de leurs fleurs, mais dans bien des parties du feuillage oü deferlait, il y avait seule-
ment une semaine, leur mousse embaumee, se fletrissait, diminuee et noircie, une ecume creuse,
seche et sans parfum. I, 134.